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Franz-Biberkopf-Terrain

■ Wo das Stadtbild zu wünschen läßt (3): Der ehemalige Hackesche Markt und die Hackeschen Höfe — offener Raum und geschlossene Anstalt

Berlin. »Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Tietz vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sofienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkler ist, wird es besser sein. Empfiehlt ihm zuerst ein älterer Mann am Hackeschen Markt, sich um sexuelle Aufklärung zu kümmern. »Was ist sexuelle Aufklärung?« fragt Franz und mag nicht recht. Wohl kaum einer kannte den Hackeschen Markt und die Hackeschen Höfe besser als Alfred Döblin. In »Berlin Alexanderplatz« läßt er seinen Helden Franz Biberkopf dort wohnen, saufen und huren, plärren, arbeiten und die Welt nicht mehr verstehen. Das Gelände an der Spandauer Brücke, zwischen Oranienburger, Rosenthaler und Sofienstraße war Biberkopf-Terrain: ein winkliger Platz, hoch, eng und dunkel gebaut, mit ein paar wenigen schönen Fassaden. Dahinter lag das Labyrinth vieler Höfe mit Festsälen, Puffs und Läden, Gewerberäumen und Wohnungen. Ein klaustrophobisch-schöner Ort. Die geschlossene Anstalt für Franz und seine Freunde.

Heute gleicht das einstige jüdische Viertel am Alex einem zugigen Fragment, einem Widerspruch. Und trotzdem zieht es an: Alteigentümer aus New York, Rechtsanwälte im geheimen Auftrag, Künstler, ein Varieté, die Vereine zur Rettung baulicher Restposten, Westunternehmer mit schiefem Maul. Der Bezirk läßt Gutachten erstellen. Studenten zeichnen Diplomarbeiten über die Höfe. Alles offen?

Die Eigenart des Quartiers besteht im Bruchstückhaften ebenso wie im erhaltenen Ensemble. Auf dem einstigen Markt wird man vom Wind erfaßt oder überfahren. Ein letzter Bau vor der maßlosen Weite gerät zum Mahnmal, das Sehnsüchte nach schützenden Stadträumen aufkommen läßt. Die Hackeschen Höfe dagegen bilden ein letztes Bollwerk. Der 1906 von den Architekten Hoeninger und Reyscher geplante Komplex, dessen erster Hof mit der grün-rot-weiß glasierten Klinkerfassade August Endells einen wunderbaren Hauch von Jugendstil versprüht, überstand im Zentrum Berlins den Krieg und die Abrißwut. Die Mischung aus Unterhaltungsort, Kleingewerbe und Wohnen konnte erhalten werden. Es sind öffentliche Räume mit privaten Nischen voller Spannung und Geheimnis. Es kann keine Frage sein, daß die Höfe bald saniert werden müssen, damit sie weiter genutzt werden können; und zwar von denen, die dort wohnen und arbeiten. Ein letzter enger Raum der alten Stadt kann hier — ohne Musealisierung — gelebt werden.

Draußen, vor den drängenden Höfen, ist der Platz in seiner ganzen Zerrissenheit nur noch als Prozeß einer Zerstörung erfahrbar. Eine »komplexe Rekonstruktion« (SED-Jargon), ein Wiederaufbau im Schatten des kalten Alexanderplatzes käme einer nicolaischen Posse, einer Scheinwelt oder erträumten Döblin-Geschichten gleich. Die Umgebung läßt die brutale Sprengung eines früheren Teils der Stadt so unmittelbar zu Tage treten, daß die Diskontinuität mehr wiegt als historische Reste. Ein neuer Platz kann nur unter dieser Prämisse geplant werden. Laut, schrill, modern — Biberkopf-Terrain. Rolf R. Lautenschläger

(wird fortgesetzt)

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