Gierig, aber nicht besitzend

Über einige Merkwürdigkeiten bei der Nachlaßverwaltung des Dadaisten Raoul Hausmann. Ein Kunst-, Sozial- und Rechtsreport  ■ Von Andreas Juhnke

Von Eigentum hielt Raoul Hausmann nicht viel. Der Dadasoph Berlins war „gegen den Besitz“, jedenfalls im November 1918. „Wir wollen gierig sein, aber nicht besitzend sein“, verlangte er in Franz Jungs Freier Straße.

Wie das Leben so spielt, wäre der chronische Hungerleider Hausmann, 1971 gestorben, heute Millionär. Auf dem heißlaufenden Kunstmarkt bringen schon kurze Briefe des Fotografen, Pamphletisten und Tänzers an Tochter Vera Hunderte von Mark. Sein berühmtes Plakatgedicht wird sechsstellig gehandelt.

Heute wird vor dem Berliner Landgericht um den Besitz der Vera Hausmann, 84, Raouls einzigen Kinds und Erbin, gestritten. Gewissermaßen streitet sie dort gegen sich selbst. Ihr Pfleger, der Berliner Notar Christhard George, verklagte Vera Hausmanns Vertraute, die Kunsthistorikerin Delia Güssefeld, auf Herausgabe einer Generalvollmacht und eines Erbvertrags zugunsten der Güssefeld.

Zu entscheiden hat das Gericht dabei über den Hergang einer seit drei Jahren laufenden Gebrechlichkeitspflegschaft. Vera Hausmanns Millionenbesitz, mehrere Kisten mit Frühwerken ihres Vaters, mit dem sie in Armut lebte, geriet im Zuge der Bemühungen von Pfleger George nämlich in den Berliner Trödel.

Wie viele Bilder, Bücher, Briefe und Manuskripte für immer bei pfiffigen Dada-Sammlern verschwunden sind, läßt sich nicht mehr ermitteln. Selbst Vera Hausmann hatte keinen genauen Überblick, was sich in Kisten, Schränken und Schubladen an Werken ihres Vaters und der Berliner Dadaisten verbarg.

Sie bewahrte das Erbe auf, wie man alte Schulhefte oder Postkarten beisammen hält. Ein einziges Ölpastell, das Porträt Otto Freundlichs von ihrer Mutter Elfriede Hausmann-Schaeffers, hatte sie aufgehängt. Die Kisten überstanden 1933 und den Zweiten Weltkrieg, nicht aber die Bemühungen von Pfleger George.

Auf die Spur des Pflegschaftsfalls Vera Hausmann kamen im Sommer 1989 zwei aufmerksame Studenten, die sich darüber wunderten, daß plötzlich zahllose Stücke Raoul Hausmanns bei einem Berliner Trödler zu Spottpreisen abgegeben wurden. Raoul Hausmann war nur noch Enthusiasten bekannt. Zurückgezogen lebte er seit der Nazizeit im französischen Limoges. Von dort kamen lange Zeit nur Bücherbitten an berühmte Kollegen, wie Hermann Hesse, oder immer noch wütende Angriffe gegen vermeintliche Dada- Plünderer aus der Pop-art. Seine wenigen Bücher erschienen in Hunderter-Auflagen. Erst nach seinem Tod, 1971, wurde er mit Ausstellungen in Paris, Wien oder Hannover wiederentdeckt. Heute gilt er als die Zündkerze der Berliner Dadaisten. Er habe als „bedeutender Anreger“ auf seine Umgebung „nachhaltig gewirkt“, urteilte der Berliner Kunstprofessor Dr.Eberhard Roters.

Auch seine Tochter Vera hat ihn in guter Erinnerung behalten. Allerdings sah sie den Vater selten. Während Mutter Elfriede die Familie mit Geigenunterricht ernährte, unternahm Vater Raoul die „Befreiung der Frau“ — mit der Dada-Kollegin Hannah Höch.

Das Atelier der Malerin Hannah Höch war die Werkstatt des Dada. Mit Hausmann legte sie dort die Collagen, die zum Signet der Berliner Dadaisten wurde. Jede Idee kam auf den Prüfstand des anderen. 1919 trennte sich das Paar. Hausmann ließ sich Mitte der zwanziger Jahre scheiden, heiratete in teure Deutsche- Bank-Kreise und floh von dort nach Ibiza. Zuletzt lebte er in Limoges mit einer Frau, die heute noch ein kleines Hausmann-Museum am Ort offenhält. Als einziges Kind ist Vera seine Erbin.

Vera Hausmann wußte nicht, was das seit einigen Jahren bedeutete. „Für den Kunstmarkt war ich nicht gewitzt genug“, erklärt sie das heute. Was Hausmann bis zu seiner Emigration produzierte, ließ er zum großen Teil in Berlin. Seine Tochter lebte zum Schluß von Sozialhilfe.

Bis Vera Hausmann im Oktober 1988 stürzte und sich die Rippen brach. Die 81jährige, die in das Berliner St.-Joseph-Hospital gebracht wurde, litt neben ihren Brüchen unter Zirkulationsstörungen und Vitamin-D-Mangel. Sie hatte ihre Parterrewohnung selten verlassen; auch konnte sie nicht verständlich sprechen und hörte extrem schlecht. Das war seit der frühesten Kindheit ihr Problem. Sie galt abwechselnd als dumm oder faul, eine Erklärung für die Artikulations- und Hörstörungen wurde aber nie gefunden.

Wenn Vera Hausmann spricht, hört sie sich nicht. Die Worte sind da, aber sie bekommen keinen Klang. Erst ist den letzten zwei Jahren hat sie gelernt, genauen Zuhörern Verständliches mitzuteilen. Wenn sie wütend ist, hilft das auch. Andere versteht sie zuverlässig nur, wenn die Fragen ihr aufgeschrieben werden. Dann aber weiß sie, was gemeint ist.

Vera Hausmann machte Ende 1945 ihre Weber-Meisterin und betrieb einige Jahre eine Weberei auf dem Hof, wo sie Wandteppiche fabrizierte. Die kaufte ihr, zum Ausschmücken von Amtsstuben, auch der Berliner Senat ab. Weil sie ihre Steuer nicht bezahlte, wurde ihr die Werkstatt schließlich ausgeräumt. Ihr Webstuhl kam in das Germanische Museum nach Nürnberg. Ab Mitte der fünfziger Jahre ging Vera Hausmann putzen. Seit Anfang der sechziger Jahre bezog sie Sozialhilfe.

Nach der Heilung ihrer Rippenbrüche wurde sie in den Schwedenpavillon verlegt. Die geriatrische Klinik des Arbeiter-Samariter- Bunds ist eine der besseren für Alte in der Stadt. In dem ehemaligen Prachthotel, Seeseite Wannsee, lassen die Schwesterschulen Berlins ausbilden. Als ihre Stationsärztin entdeckte, wer die Kranke war, organisierte sie eine sogenannte Gebrechlichkeitspflegschaft für Vera Hausmann. Nur zur „Sicherung der Werke des Raoul Hausmann und der Erinnerungsstücke aus dem Besitz der Pflegebefohlenen“ sollte der Pfleger tätig werden. Anfang 1989, binnen Tagen in einem „Eilverfahren“, wurde Christhard George mit der Gebrechlichkeitspflegschaft beauftragt, ein Routinier in Pflegesachen. Der Mittvierziger hat „im Jahr vielleicht hundert Pflegefälle“. Kürzlich bekam er die Pflegschaft für die Witwe des Berliner Bürgermeisters Otto Suhr. Besuchern in seiner Kanzlei zeigt er gern die Totenmaske des verblichenen Stadtoberhaupts.

Vera Hausmann wurde von der Amtsärztin Schmitz-Avila, damals beim Bezirksamt Zehlendorf, zweimal „exploriert und untersucht“. Am 9.Januar 1989 gutachtete sie für das Amtsgericht Schöneberg, daß sie Vera Hausmann „wach, kooperationswillig, voll orientiert“ antraf. Sie las schriftliche Fragen, hörte „einfach strukturierte Sätze“ und beantwortete sie „adäquat“.

Dennoch war sie mit der Gebrechlichkeitspflegschaft „einverstanden“. „Die sich daraus ergebenden Konsequenzen wurden der Patientin aufgezeigt.“

Binnen kurzem war der gesamte Nachlaß Raoul Hausmanns verschwunden. Im Müll, beim Trödler oder in den Händen glücklicher Sammler fand sich, was der Pfleger sichern sollte. „Man wollte auf die Sachen aufpassen, so hatte man mir das nicht erklärt“, beteuert Vera Hausmann. Den Pfleger lernte sie erst lange nach seiner Einsetzung kennen.

Die Ansprechpartnerin des Notars, Rechtspflegerin Brümmer, saß im Amtsgericht Schöneberg. Von ihr ließ George eine Woche nach seiner Bestallung seine Pflegschaft erweitern. Jetzt war er auch für die „Wahrnehmung der Wohnungs- und Vermögensangelegenheiten“ zuständig. Er fand die Wohnung der Hausmann in reichlich verwahrlostem Zustand und beschloß, sie räumen zu lassen. Sein langjähriger Wohnungsräumer Harry Rhode, Altvorderer der Trödler-Dynastien Berlins, half ihm dabei. Gemeinsam machten sie in Veras Wohnung drei Haufen: einen für den Müll, einen für die Kunstwerke und einen für Harry Rhode zum Verkauf.

Auf Harrys Haufen wanderte gleich die Bibliothek, auch die größtenteils von Vater Raoul. Seltene Erstausgaben, meist signiert, z.B. auch die deutsche Erstausgabe von D.H. Lawrences Lady Chatterley, gingen bei ihm kurze Zeit später für ein paar Mark über den Tisch. Möbel, Geschirr und was er sonst brauchbar fand, bezahlte er mit 800DM. Der „Unrat“, wie es George nennt, wurde mit 78 Kubikmetern vermessen. Dort lag der Rest von Veras Möbeln, ihre Webarbeiten, ihr Gebiß und ihr Hörgerät. Für den Abtransport wurden der Hausmann 2.667,60DM berechnet, um die Rhode seine Zahlung verminderte.

Trödler Rhode nahm nicht nur seinen, sondern auch den Kunsthaufen mit zu sich in den Laden. Mehrere Waschkörbe mit Bildern, Briefen, Manuskripten und Fotos Raoul Hausmanns lagerten von nun an, einsehbar für die Kundschaft, in der Exerzierstraße 16. Zuoberst, so erinnern sich Augenzeugen, lag das Plakatgedicht OFFEA, gewissermaßen als Staubschutz. „In meiner Kanzlei wäre es nicht sicher gewesen“, verteidigte Pfleger George diese ungewöhnliche Sicherstellung in einem Weddinger Trödelladen. „Einen Banksafe bekam ich für diese Menge nicht.“

In Rhodes Trödelladen war es aber, wen wundert's, auch nicht sicher. Von April bis August 1989 wurde das unscheinbare Geschäft des Nachlaßspezialisten zum Mekka der Dada-Sammler. Die ersten Funde machten Claudia Naber und Gerd Ahlers, Berliner Studenten, am 10.April, wenige Wochen nach der Wohnungsauflösung. Für fünf, zehn, höchstens zwanzig Mark kauften sie eine Reihe wertvoller Bücher, Fotos und Briefe aus dem Besitz Vera Hausmanns.

Ein anderer Sammler erwarb, neben vielem anderen, eine Rötelzeichnung Hausmanns von seiner Geliebten Höch im Boot. Schnell sprach sich in der Sammlerszene die Sensation rum. Zeitweise hing in Rhodes Vitrine ein Schildchen: „Raoul Hausmann Briefe 10DM“. Der Preis war aber schnell überholt, als der bis dahin ahnungslose Trödler merkte, warum sein Laden plötzlich so voll war. Zum Schluß verkaufte er die Briefe in einer Art Tombola pro geschlossenen Umschlag für 150DM.

Bei der 89er Herbstauktion im angesehenen Auktionshaus Gerda Bassenge brachten Veras Briefe vom Vater schon bis zu 480DM. Da war die Berliner Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen schon wieder am Ende. Allenfalls fahrlässig sei das Verhalten des Pflegers, obwohl Rechtsanwalt „George den objektiven Tatbestand der Untreue durchaus erfüllt haben könnte“. Strafbar wäre das jedoch nur bei absichtlichen Handlungen, fand die Staatsanwaltschaft.

Vera Hausmann wußte von dem plötzlichen Boom an der Dada-Börse nichts. Sie teilte sich über anderthalb Jahre mit zwei anderen Frauen 21 Quadratmeter Krankenzimmer. Besuch von jenen, die mit der Wahrung und Mehrung ihres Besitzes beschäftigt waren, bekam sie nicht. Bekleidet war sie mit Textilien aus der Kleidersammlung. Oft wollte sie nicht mehr aufstehen.

Nicht ihr, sondern dem Amtsgericht legte George, drei Monate nach der Wohnungsräumung, am 29.Mai 1989 ein Vermögensverzeichnis der Vera Hausmann vor. Ein paar tausend Mark habe er auf Konten gefunden, das „Inventar der Wohnung“ sei 800DM wert gewesen. Näheres dazu erklärte er lieber nicht.

„Es erstaunt“, daß „keine Angaben für die angeblichen Kunstgegenstände“ im Vermögensverzeichnis zu finden sind, monierte die zuständige Rechtspflegerin Brümmer sofort und wollte von George „ergänzende Angaben“. Trotz dieser prompten Mahnung rührte sich George erst mal nicht. Bei den Studenten Naber und Ahlers wurde die Neugierde stärker, als immer mehr Hausmann-Stücke auftauchten. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Delia Güssefeld gingen sie Mitte August 1989 zur Kripo und erstatteten Anzeige gegen Unbekannt.

Sie hatten Vera Hausmann nach einiger Suche in der Wannsee-Klinik gefunden, bar jedes Wissens um das Schicksal ihres Besitzes. Hausmann, die auch laut Gutachten der Amtsärztin weiter „geschäftsfähig“ geblieben war, habe nie wieder von ihren Sachen gehört. Die Kripo-Beamtin Breforth stieß bei ihren Ermittlungen schnell auf die George-Rhode-Connection und meldete einen Besuch beim Pfleger an.

„Die Kripo rief an, und dann habe ich die Sachen in seine Kanzlei gebracht“, erzählt Peter Rhoda, Sohn und Helfer des mittlerweile verstorbenen Trödlers Harry. Weitere Verantwortung lehnt er ab. „Ich war nur der Träger“, beschreibt er seine Rolle. Frisch auf den Tisch des Hauses George packte der Trödler den Rest des Besitzes Vera Hausmanns. Was vorher eine mittelgroße Wohnung und den Keller füllte, hatte am 25.August 1989 in drei Wäschekörben Platz.

Ermittlerin Breforth und zwei Abgesandte der höchst interessierten Berlinschen Galerie besahen den Rest: mehr als 200 Bilder, über 50 Bündel mit Manuskripten, Briefen und Programmen, einige hundert Fotos, Gesamtwert, so Professor Roters in einem überaus zurückhaltenden Gutachten, knapp eine Million DM.

Cornelia Thater-Schulz, in der Berlinschen Galerie damals mit einschlägigen Sammlungen beschäftigt, packte die Hausmann-Körbe gleich in ihr Auto und fuhr sie in den Gropius-Bau, wo die Galerie Lager und Büro hat. Dort liegen sie heute noch: das seltene Plakatgedicht OFFEA, Schätzwert 200.000DM, Hausmanns Patentschrift zum Optophon, einem Gerät zum Umsetzen von Tönen in Licht, seine frühen Ölgemälde im manierlichen Biedermannstil.

Bezahlt wurde, erst mal, nichts. Beim Tod der Vera Hausmann wäre der Millionen-Nachlaß, mangels anderer Erben, an das Land Berlin gefallen. Hausmann-Anwältin Ulrike Kolneder-Zecher glaubt: „Da wurde gewartet, ob sie nicht stirbt, bevor bezahlt werden muß.“

Beinahe zwei Jahre sah Vera Hausmann nichts von ihrem Vermögen. In ihrem Dreibettzimmer erhielt sie Sozialhilfe. Erst als jetzt nachgefragt wurde, kündigte der Kultursenator ein paar tausend DM an. Der Rest „könne aber noch ein paar Jahre dauern“, meint sein Sprecher.

Vera Hausmann ist anderer Ansicht: „Ich will vor allem nicht, daß das an den Staat geht.“ Der Berliner Urheberrechtspapst und Notar Professor Dr.Paul-Wolfgang Hertin hat sich von ihrem Willen überzeugt und einen Erbvertrag aufgenommen. Die Kunsthistorikerin Delia Güssefeld, mittlerweile zu ihrer Vertrauten geworden, will Vera Hausmann als Alleinerbin sehen. Dafür soll diese sich um ihren Lebensunterhalt und um die wissenschaftliche Auswertung kümmern.

Der noch immer tätige Pfleger George bestreitet Vera Hausmann ihren letzten Willen. Er findet es schon „zweifelhaft“, ob sie „überhaupt versteht“, wenn es um die Werke des Vaters geht.

Vera Hausmann entzieht sich dem Konflikt auf ihre Weise. Einige Wochen wollte sie weder trinken noch essen und riß sich die Infusionsschläuche wieder raus. Nur langsam nimmt sie jetzt die mühsamen kleinen Tätigkeiten des Lebens wieder auf. „Wenn ich das noch erlebe“, setzte sie schon vor ein paar Monaten ans Ende jedes Gesprächs über ihren Streit mit dem Pfleger.

Sie hat jetzt ein bißchen Privatsphäre in einem Altersheim gefunden. Delia Güssefeld kümmert sich um sie, die Zukunft des Hausmann- Nachlasses und muß sich für viel Geld mit Pfleger George streiten. Die Zivilkammer am Landgericht sollte hier wenig Mühe mit der Entscheidung haben.