Polarisierung

■ Der Nationalismus beginnt auch an der "samtenen Revolution" der CSFR zu nagen

Polarisierung Der Nationalismus beginnt auch an der „samtenen Revolution“ der CSFR zu nagen

Fast schien es, als wäre nichts passiert. Nachdem die Abgeordneten der Prager Föderalversammlung alle ihnen vorliegenden Anträge zur Durchführung eines Referendums über die Zukunft der CSFR mit einem „Nein“ beschieden hatten, gingen sie kommentarlos zum nächsten Tagesordnungspunkt — einer weihnachtlichen Sonderzulage für Waisenkinder — über. Nur langsam wurde den meisten bewußt, welch entscheidenden Schritt sie gerade gemacht hatten. Nicht nur anwesende Journalisten fragten: „Können wir den Zerfall der Tschechoslowakei wirklich nicht mehr aufhalten, sind wir tatsächlich so unfähig?“

Unfähig erweisen sich die tschechischen und slowakischen Politiker bereits seit mehr als einem Jahr. Unzählige Male hatten sich die höchsten politischen Repräsentanten zu Gesprächen zusammengefunden, genauso oft waren diese ergebnislos zu Ende gegangen. Doch die Schuld am Scheitern der Verhandlungen trägt nicht nur die auf Gleichberechtigung mit der tschechischen Republik pochende, in vielem kompromißlose slowakische Seite. Schuld tragen auch die proföderalen „Tschechoslowakisten“. Weder Außenminister Jiri Dienstbier noch Finanzminister Václav Klaus sind bereit, den slowakischen Forderungen nach einer „Föderation von unten“ entgegenzukommen. Der eine, weil er von der „Freiwilligkeit“ des slowakischen Beitritts zur Tschechoslowakei 1918 überzeugt ist. Der andere, weil er sich durch die „linken Nationalisten“ des östlichen Landesteils sein Konzept der Einführung der Privatwirtschaft nicht verderben lassen will. Der erste, der sich dem slowakischen Denken zu nähern versuchte, war Václav Havel. „Fünf Minuten vor zwölf“ folgte ihm der tschechische Premier Petr Pithart. In einer vom Fernsehen übertragenen „persönlichen Botschaft“ brachte er sein Verständnis für die Unabhängigkeitsbewegung in der Slowakei zum Ausdruck, kritisierte den Paternalismus der Tschechen. Doch während der slowakische Ministerpräsident Carnogursky die Worte seines Gegenspielers wohlwollend zur Kenntnis nahm, reagierte die tschechische Öffentlichkeit empört: Ihr „Tschechoslowakismus“, der Stolz auf die Republik Thomas G. Masaryks, war empfindlich getroffen worden. Der Rücktritt Pitharts wurde gefordert.

Und so stärkt die Uneinigkeit der tschechischen Politiker die „extremen Kräfte“ in beiden Teilrepubliken. Die seit Monaten geführte Diskussion behindert die Lösung der dringendsten ökonomischen Probleme. Nach jedem Scheitern einer Verhandlungsrunde werden die Stimmen der slowakischen Separatisten lauter, verweist die radikale Rechte auf die Unfähigkeit der parlamentarischen Demokratie, können sich die Kommunisten über eine Zunahme der „Protestwähler“ freuen. Die Durchführung des Referendums wurde durch eine katholisch-national-kommunistische Koalition verhindert. Wie die „staatsrechtliche Diskussion“ nun weitergeführt werden soll, das weiß in Prag zur Zeit niemand. Sabine Herre, Prag