GESPROCHENES WORT
: Bild und Selbstbild

■ Oder die Hoffnung darauf, daß man die Juden in Deutschland in Ruhe läßt

Der Antagonismus Judentum und Christentum bestimmte Jahrhunderte das Nebeneinander — oder Zusammenleben von Juden und Christen, ein Antagonismus, der in unserer heutigen Gesellschaft, die sich ja immer noch als christlich bestimmt, nicht aufgehoben ist, nicht aufgehoben werden kann. Er ist so lange immanent vorhanden, wie sich die Kirche als der „Versus Israel“, als das neue Bundesvolk und damit die Juden als von Gott verworfen, als ewige Sünder versteht.

Nichtsdestoweniger leben wir heute, trotz lähmender Erinnerungen an die Vergangenheit, in einem goldenen Zeitalter, nicht dem ersten in der christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte; doch verdunkelt diese Vergangenheit mehr denn je einen eminenten Teil der Geschichte der Juden Deutschlands. Historiker, ob Christen oder Juden, können sich schwer der Versuchung entziehen, die Geschichte von ihrem Ende her zu betrachten.

Sprache ist unzulänglich und verräterisch. Eine Formulierung wie „das Ende“ enthält einen Euphemismus: Die Gefahr der Vereinfachung und der undefinierten Begriffe scheint für jeden Historiker immanent, der sich mit einer solchen Thematik auseinandersetzen will. Ich erinnere an Gerschom Scholems vehementer Verneinung jeglicher Epoche eines christlich-jüdischen Zusammenlebens oder eines „deutsch-jüdischen Gesprächs“, an Kurt Tucholskys und Hanna Arendts Schuldzuweisungen an die deutschen Juden, die würdelos nach dem Jahre 1933 in Deutschland verblieben seien; an die oft wiederholte Behauptung einer „mißglückten Assimilation“; an das Lamento mancher guten Christen über den Verlust jüdischer Talente, als wäre die Erinnerung an die Verbrechen leichter zu ertragen, wären ihnen „nur“ durchschnittliche, unbekannte Bürger zum Opfer gefallen und an den immer wiederkehrenden Vorwurf an die Adresse der deutschen Juden — „und als sie es dann endlich merkten, war es zu spät“.

Bequemer Geschichtsdeterminismus

Es ist bequem und zeugt von Ordnungssinn, den Geschichtsablauf einer Determination zu unterwerfen: Ob es sich dabei um den berühmten Gang des Weltgeistes durch die Geschichte bis zu seiner Vollendung handelt, oder ob der Niedergang des deutschen, niemals zu seiner Mündigkeit gelangten Untertanengeistes — von Luther über Friedrich II. und Bismarck — bis zu dem Tiefpunkt beschworen wird, der ihn anfällig für die NS-Ideologie machte, oder, um dieses Ordnungsprinzip auf die jüdische Geschichtsauffassung zu übertragen, wenn die Geschichte der Juden als Geschichte der messianischen Bewegungen und der Verfolgungen begriffen wird, die in einem säkularen Zeitalter in die Geschichte der nationalen Bewegungen einmünden mußte, um den Zionismus als Weg zur Erfüllung der eigentlichen historischen Aufgabe, der Erschaffung des Judenstaatees, zu verkünden — stets verdunkelt Ideologie oder Weltanschauung die historische Wahrheit in ihrer Vollständigkeit.

Meine Studien haben mich eine andere Auffassung von Geschichte gelehrt, einer dialektisch vielschichtigen Geschichte, einer Geschichte vieler Wahrheiten, Möglichkeiten und vor allem Unvorhersehbarkeiten — von einer Geschichte, von der sich niemals sagen läßt, wie es so schön in Georg Hermanns Jettchen Gebert heißt, „und es kam, wie es kommen mußte“.

Ich bin keine Gesundbeterin, die Verfolgungen relativieren will. Die im 12.Jahrhundert beginnende Dämonisierung des Judenbildes läßt keinerlei Relativierung zu. Sie ist die Ursache eines Jahrhunderte währenden Prozesses einer Bewußtseinsvergiftung, die in unserem Jahrhundert die psychische Bereitschaft der Täter, auch der Gleichgültigen und Trägen, schuf für die Durchführung eines Menschenmassenmordes. „Die Welt von gestern“ ist vollständig zerstört worden, von „Fortleben“ kann man daher nicht reden. Es fällt mir unendlich schwer, über Juden und Judentum im heutigen Deutschland zu berichten, jedes Wort, jede Äußerung scheint abgenutzt, verbraucht, zu oft wurde dieses Thema in den Medien unter wiederholter Benutzung derselben Schablonen bar jeglichen intellektuellen Tiefgangs behandelt. Mißtöne, Mißverständnisse scheinen unvermeidbar.

Halten wir uns an die Tatsachen. Jüdische Gemeinden entstanden in fast allen größeren deutschen Städten wieder, überall bemüht man sich um jüdische Kulturtage, Volkshochschulen, Jugendgruppen; in Berlin wurde eine jüdische Schule und eine jüdische Abteilung im Berlin- Museum, in Frankfurt ein jüdisches Museum gegründet.

Jüdisches Selbstverständnis, jüdisches Selbstbild sind überlagert oder überschattet durch die als notwendig empfundene Bindung an den Staat Israel und durch die nimmer erlahmende kritische Aufmerksamkeit, die sich auf jegliche innerdeutsche Äußerung über israelische Politik oder über jüdisches Leben in Deutschland richtet.

Nur wenige Mitglieder der jüdischen Gemeinden sind Nachkommen der deutschen Juden vor dem Jahre 1933, und auch für diese wenigen bedeuten die alten Gemeinden nicht mehr als eine ungefähre Familienerinnerung. Allerdings, die „Judenfrage“ — Volks- oder Religionsgemeinschaft — ist überholt. Die heutigen Deutschen wollen — soweit sie überhaupt nachdenklich geworden sind — endlich das verwirklichen, was den deutschen Juden auch in Zeiten von Aufklärung, Humanismus und Liberalismus versagt wurde, in denen selbst die edelsten Geister, wie Lessing, Humboldt, Mommsen und Fontane das vollständige Aufgehen der Juden in die christliche Gesellschaft erhofften. Die vollkommene Anerkennung der Juden als Juden. Jüdische religiöse Lebensweise bedarf keinerlei Rechtfertigung mehr.

Der Wille, „die Welt am deutschen Wesen genesen“ zu lassen, wird zumindest in den bürgerlichen Kreisen nicht mehr lautstark verkündet. Die Erfahrung, daß dieses Streben zur Ursache des Untergangs wurde, ist auch den Uneinsichtigen durch die geschichtliche Erfahrung bitter bewiesen worden.

Gegenseitiger Respekt und gegenseitige Distanz

So könnte man von „Neubeginn“ sprechen und mit einiger Hoffnung in die Zukunft schauen, würde man die Juden in Deutschland in Ruhe lassen. Immer wieder wird an sie „medienwirksam“ von den einen — oft von Israelis — vorwurfsvoll, von den anderen — von geständnishungrigen Deutschen — neugierig-aufdringlich eine andere „historische Frage“ gestellt, nämlich nach ihrer „Identität“, ihrem Lebensgefühl im heutigen Deutschland. Jene pochen an das Ehrgefühl, treiben die heutigen Juden Deutschlands in die Verteidigung und lassen sie nicht ihre eigenen moralischen Zweifel überwinden. Diese, die Neugierig—Indiskreten, profitieren von dieser Verlegenheit, in dem sie mit dieser Frage eine wahrlich unzeitgemäße Überlegenheit demonstrieren und sich dadurch zeitweilig von dem eigenen Unbehagen vor einem ernsthaften Umgang mit der Vergangenheit befreien.

„Fremd im eigenen Land“ haben viele Juden Deutschlands als Motto über ihre Existenz in Deutschland gestellt, und es ist diese bisher unauflösbare Spannung, die noch nicht herstellbare Unbefangenheit, die die Beziehungen zwischen Juden und Christen in Deutschland bestimmt und diese Fremdheit entstehen läßt. Die Erinnerung der einen an die tiefste Erniedrigung, der anderen an die tiefste Scham, auch der zufällig Geretteten und der zufällig völlig Schuldlosen, hat eine nicht aufhebbare Verstrickung jüdischen und christlichen Lebensgefühls in Deutschland zur Folge. Sind die Juden in Deutschland wirklich fremd im eigenen Land? Halten wir uns an die Gegebenheiten: Das Leben beider Gruppen ist durch dieselbe Landschaft, dieselbe Sprache durch den gleichen Wohnort und Arbeitsplatz geprägt — die Grundelemente menschlicher Existenz sind beiden Gruppen gemeinsam.

„Jüdisches Weltbürgertum“ schmähte man im 19. und im 20.Jahrhundert und sah in ihm den Keim der Zersetzung eines „gesunden Volkskörpers“. Hoffen wir, daß es gelingt, die höhere Ebene einer über die nationalen Grenzen herauswachsenden Gemeinschaft zu erreichen, die eine weitere Sicht eröffnet, die die Erinnerungen erträglicher werden läßt und die Fremdheit aufhebt. Liebe zu Deutschland, wie sie einst die deutschen Juden empfunden, kann nicht mehr vorausgesetzt werden. Daher bedarf es heute — um mit Gerschom Scholem zu sprechen — anderer Ingredienzien: der Distanz und des Respektes, der Offenheit und Aufgeschlossenheit und — mehr als alles andere — des reinen Willens. Marianne Awerbuch

Die Autorin ist emeritierte Professorin für Mittelalterliche Geschichte und Judaistik an der Freien Universität Berlin. Sie hielt den hier auszugsweise abgedruckten Vortrag am 12. November in der Hessischen Landesvertretung in Bonn zur Eröffnung einer Ausstellung des Jüdischen Museums in Frankfurt a.M.