„Revolution der Ökonomie hat Vorrang“

Ilja Gorelow, Verfechter einer deutschen Wolga-Republik, zur Situation vor Ort  ■ Von Anita Kugler

Ilja Gorelow, Germanistikprofessor an der Universität in Saratow, ist ein engagierter Verfechter für die Wiederherstellung einer deutschen Republik an der Wolga. Die meisten der rund 30.000 Deutschen, die seit Anfang der achtziger Jahre wieder in Saratow, Marx, Sowjetskoje, Krasnoarmesk und vor allem in den beiden Dörfern Oroschaje und Meliorator nahe an der Wolga leben, möchten dies auch. Das ist also weiter nichts besonderes. Ist es aber doch, denn Ilja Gorelow ist weder Deutscher, noch in der alten Wolgarepublik geboren, sondern vor 63 Jahren als Sohn einer polnischen Jüdin in Rostow am Don. Wenn überhaupt Gorelows Affinität zu einem Deutschland „von Kant und Goethe“ erklärt werden kann, dann nur durch die Erziehung durch eine deutsche Babuschka. Die hieß Marta Gottlieb, und wurde 1941, wie hunderttausende von anderen Rußlanddeutschen auch, zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppt.

Sie starb 1973, ohne je die alte Heimat wiedergesehen zu haben, Gorelow hingegen ist, nach Studium und Wanderjahren in den südlichen Republiken, Universitätsprofessor in Saratow geworden. Und seit fünf Jahren engagiert er sich für eine deutsche Wolgarepublik, auch wenn dies bis vor kurzem eine Beförderungsbremse war. „Einfach weil es eine Wiedergutmachung des stalinistischen Unrechts ist“, sagt er.

Gorelow war Delegierter auf dem ersten, noch inoffizellen Kongreß der Rußlanddeutschen im März, genau dem Kongreß, der sich über die Frage, Wolgarepublik jetzt oder etwas später gespalten hat. Er stand auf Seiten der Radikalen, wenn auch etwas halbherzig. Die Option von Heinrich Groth, dem Führer des radikalen Flügels der Unionsbewegung „Wiedergeburt“, konnte er nicht teilen. Groth forderte auf diesem Kongreß die rund zwei Millionen Deutschen in der Sowjetunion auf, massenhaft in die Bundesrepublik auszureisen, wenn die Wolgarepublik nicht innerhalb von sechs Monaten, also bis vergangenen September, eingerichtet wird. Für den zweiten, diesmal offiziell anerkannten Kongreß Mitte Oktober in Moskau, wählten die deutschstämmigen Saratower erneut Gorelow zum Delegierten. Inzwischen rechnet er sich nicht mehr der „Wiedergeburt“ zu, sondern einer frisch gegründeten Bewegung „Deutsche Union“. Zusammen mit der ebenfalls neu gebildeten Organisation „Heimat“ verfechten sie einen Mittelweg, der da heißt: Dableiben, bei den politischen Behörden um Akzeptanz werben und die Wolgarepublik in Etappen erstreiten.

Gorelow sprach aber auf diesem letzten Kongreß nicht nur für die Deutschen, sondern ebenfalls als Repräsentant einer kleinen, neuen russischen Organisation namens „Gerechtigkeit“. Zusammen mit der größeren, einige tausend Köpfe zählenden Partei „Demokratisches Rußland“ unterstützen sie die die Bestrebungen zur deutschen Autonomie.

Jetzt befindet sich Gorelow zum zweiten Mal in der Bundesrepublik, in Kassel, wo er als Gastprofessor einen Monat lang Studenten über „Das deutsche Element in der russischen Kultur“ lehren möchte.

Für die Mehrheit der russischen Bevölkerung, vor allem für die Arbeiter, sagt er, sei die Frage der Republik zweitrangig. Die Akzeptanz hänge von einer spürbaren Verbesserung der ökonomischen Lage ab. Jelzin, sagen die Einheimischen, sei ein schlauer Fuchs, der genau weiß, daß die Aussiedler im Westen nicht mehr so gerne gesehen werden und deshalb die Deutschen lieber Gelder an die Wolga schicken. Also sollen sie das tun und vor allem die Unternehmen motivieren, kräftig zu investieren. Am besten ganz eilig in eine deutsche Bierbrauerei, sagt Gorelow, „nichts könnte die Einheimischen mehr für die deutsche Autonomie einnehmen, als eine Alternative zu der Wolgaplörre“. Wenn die Bundesrepublik in der Lage sei, die Ökonomie zu revolutionieren, dann sei auch das Etappenmodell sinnvoll, meint er. Wenn aber umgekehrt die Bonner erst auf eine „schrittweise“ ökonomische Stabilität in Rußland warten, um erst dann eine Wolgarepublik großzügig zu unterstützen, wird sich die Lage radikalisieren, faßt Gorelow die Stimmung an der Wolga zusammen.

Anzeichen dafür gibt es, gezielt initiiert von den lokalen Obrigkeiten. Die Wortführer der antideutschen Bewegung sind die Vorsitzenden der Sowjets in Marx (Wladimir Süsin und Alexander Tschernych) und in Saratow (Nikolai Makarewitsch). Diese drei, sagt Gorelow „sind freche und schlaue Organisatoren“ und finanzieren die Kampagne gegen eine Republik „vermutlich“ aus der Parteikasse. Offiziell tauche ihr Name auf den antideutschen Flugblättern und den Drohbriefen gegen Aktivisten — auch Gorelow besitzt eine Sammlung davon — nie auf, sie verstecken sich hinter der Organisation „Rußland“. Diese Bewegung sei zwar klein, werde aber getragen von den „Bonzen“ der Region, die auch der Moskauer Putsch nicht hinwegfegen konnte.

Für bedeutsam hält Gorelow auch Makarewitschs Kampagne in der Saratower Lokalzeitung. Ausgerechnet der Vertreter der Betonkommunisten erklärte der Leserschaft vor kurzem, was die deutsche Autonomie für die Russen bedeuten würde. Nämlich Schlimmes: sämtliche Kinder müßten in der Schule Deutsch sprechen, die Amtssprache würde ebenfalls Deutsch, die Deutschen würden bei dem anstehenden Gesetz zur Privatisierung des Bodens bevorzugt, und weil die Deutschen dann über die Region bestimmen, würden die Russen arbeitslos werden. Alles Quatsch, sagt Gorelow. Die Mehrheit der Deutschen sind einfache Arbeiter oder Mechaniker in der Landwirtschaft. Ihre Schulbildung liege unter dem Durchschnitt, die jahrzehntelange Diskriminierung führte dazu, daß es so gut wie keine Intellektuellen unter den Rußlanddeutschen gibt. Die Muttersprache sprechen nur die allerwenigsten, selbst die Verkehrssprache auf dem Aktivisten-Kongreß sei russisch gewesen. Daran würde sich noch lange nichts ändern, zumal es überhaupt keine Lehrer gäbe. Und daß man nicht den Grund und Boden zurückfordert, den man vor 50 Jahren verlassen mußte, habe man schon vor Jahren versichert. Realistisch gesehen, meint Gorelow, sei eine deutsche Wolgarepublik in erster Linie eine „kulturelle“ und eine „ideelle“ Heimat für die jetzt in der ganzen Union versprengt siedelnden „Daitschen“. Wieviele Familien tatsächlich ihr Bettzeug in Segeltuch packen und an der Wolga neu anfangen würden, wissen selbst die Funktionäre nicht. Denn sicher sei eines: Die Bonner Hilfe für die Wolgarepublik müßte schon sehr attraktiv sein, damit der Exodus in den Westen aufhört.