Heißes Klima

■ Der Streit in Frankreich um die „Bibliothèque de France“

Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein“. So beschrieb Rilke die weihevolle Stille in der Pariser Bibliothèque Nationale. Die konzentrierte Ruhe von einst ist dort zwar nicht mehr zu finden, aber den Rang einer nationalen Kultstätte besitzt das Gebäude in der Rue de Richelieu nach wie vor. Es enthält schließlich das gesamte geistige Besitztum der Franzosen (soweit es gedruckt vorliegt), also jenes „patrimoine“, an das zu denken jeden Franzosen ehrfurchtsvoll erschauern läßt.

Jedoch: — ein unerhörter Vorgang in der traditionsbewußten „Stadt des Noch“, wie Tucholsky Paris einmal nannte — die Tage der Bibliothek sind gezählt. Längst ist sie zu klein, zu unpraktisch, zu unübersichtlich geworden. Dem vorwärtsschauenden Präsidenten der Republik kommt das nicht ungelegen. Nachdem sein Bestreben, sich in nationalen Großbauwerken zu verewigen, bisher nur recht zweifelhafte Gestalt angenommen hatte und massiv kritisiert worden war, witterte Mitterand vor drei Jahren eine neue Chance und ließ am Nationalfeiertag des Jahres 1988 sein Volk wissen: „Ich habe den Bau einer der größten, wenn nicht sogar der größten und modernsten Bibliothek der Welt beschlossen.“

Nun entsteht sie also, die „très grande bibliothèque“ (von den Parisern längst abgekürzt als „TGB“, in Anlehnung an den Hochgeschwindigkeitszug „TGV“) in der Nähe der Gare d'Austerlitz, wo sie das von Industrie und Plattenbau gezeichnete 13.Arrondissement zieren soll. Doch ob es sich bei dem preisgekrönten Entwurf des siebenunddreißigjährigen Architekten Dominique Perrault wirklich um eine Verschönerung des Stadtbildes handelt und ob sein Plan der nationalen Würde des Projektes angemessen ist, darüber wird in Frankreich gestritten. Wie immer, wenn es dort um repräsentative Kultur geht, nimmt die Debatte schnell nationale Ausmaße an. Nachdem Pierre Nora sie in der führenden französischen Kulturzeitschrift ‘Le Débat' im November 1990 eröffnet hatte, läßt sie der geistigen Welt keine Ruhe mehr. Die technischen, organisatorischen und ästhetischen Einwände hat vor kurzem Georges Le Rider, der ehemalige Verwaltungsdirektor der Bibliothèque Nationale, in einem offenen Brief an das Staatsoberhaupt Mitterand zum Ausdruck gebracht, den mittlerweile über vierhundert Personen vor allem aus dem Universitätsmilieu mitunterzeichnet haben.

Sie monieren hauptsächlich die vier L-förmigen, 86 Meter hohen Türme aus Glas und Stahl, die ein offenes Rechteck (den „Klostergarten“) umschließen, und in denen zwei Drittel der circa zwölf Millionen Bücher untergebracht werden sollen. Dort, so heißt es, seien die Bestände nicht sicher vor der Sonne. Es brauche nur die Klimaanlage auszufallen, und schon schmölze das mürbe Druckgut. Im übrigen sei die Turmkonstruktion abscheulich.

Sicherlich wird man Perrault zugute halten müssen, daß er zumindest das Problem einer gigantischen Klotzkonstruktion umgangen hat. Er will statt dessen ein „imaginäres Gebäude“, wie er dieser Tage dem Berliner Publikum erklärte: „Die Türme definieren die Abwesenheit eines Gebäudes. Ein abschreckender Block existiert nicht, oder, besser gesagt, ihn gibt es nur unterirdisch.“

Schwerer wiegen die Einwände aus Sicherheitssorgen. Doch genau hier beginnt die Debatte, irrationale Züge anzunehmen. „Man behandelt uns wie Idioten“, empört sich Jean Gattégno, wissenschaftlicher Beirat im Direktorium der Bibliothek und dem Kulturminister unterstehend, „als ob uns nicht klar wäre, daß dies das vordringliche Problem ist!“ Der Architekt: „Es ist in diesem Fall sogar ziemlich leicht, die nötigen Apparaturen zu installieren.“ Die klimatischen Anforderungen für Bücher seien weit weniger kompliziert als die für andere Objekte. Das wüßten alle Experten. Und wenn die eine Anlage ausfalle, gehe automatisch eine andere an. Mehr als doppelten Schutz gebe es nirgends. Die Ängste hält Jean Gattégno nur für vorgeschoben. Wenn es um die „hohe“ Kultur gehe, offenbare sich selbst in Frankreich eine gewisse Technologiefeindlichkeit.

Die Intellektuellen sind verstört, daß introvertierte Gelehrsamkeit nun eine Symbiose mit modernster Technik eingehen muß. Denn in der Tat: Die zukünftige Bibliothèque de France ist voll automatisiert und elektrifiziert. Fernausleihe über Computer ist ebenso selbstverständlich wie die Aufwertung von Bild- und Tonträgern, die nach den Büchern das Schwergewicht der Bestände darstellen.

Das schlimmste Sakrileg ist allerdings, daß Frankreichs geistige Eliten nicht mehr unter sich sein werden. Sie werden mit dem breiten Publikum zumindest unter einem Dach sitzen, wenn auch nicht in einem Raum, nicht einmal auf derselben Etage. Aber einen öffentlichen Lesesaal nach dem Vorbild des Centre Pompidou wird es geben - und schon befürchten die Kulturkonservativen, die auch in Frankreich bei den Linken nicht seltener sind als bei den Rechten, ein „Disneyland des Lesens“.

Die Benutzer der französischen Nationalbibliothek, heute noch umgeben vom verstaubten Charme des Ancien régime, werden sich ab 1995 auf der Höhe der Zeit bewegen müssen. Kein Wunder, daß ihnen bei dieser Aussicht schwindelig wird. Kein Zweifel andererseits, daß sie auch diesen Niveauunterschied bewältigen werden. Tilman Krause