Der Mann ist wertvoll

Über Barbie, Mengele und andere: Das Rote Kreuz, den Vatikan und die lebensrettende Rattenlinie  ■ von Elke Schubert

Thomas und Rena Giefer haben im letzten Jahr für das Fernsehen einen 45-Minuten-Film über die Fluchtwege der Nazis nach Kriegsende gedreht. Aus der Fülle des Bild-, Interview- und Recherchenmaterials ist ein Buch entstanden, das zwar keine neuen wissenschaflichen Forschungsergebnisse vorlegt, aber einen Zusammenhang zwischen den scheinbar disperaten Ereignissen herstellt.

„Wer immer als Mittäter oder Anstifter an Kriegsverbrechen, Massenmord oder Hinrichtung schuldig ist, ... die drei allierten Mächte werden jeden Schuldigen bis in den letzten Winkel der Erde verfolgen und vor seinen Ankläger bringen, auf daß Gerechtigkeit geschehe.“ Diese 1944 veröffentlichte „Moskauer Erklärung“ der Allierten war schon kurze Zeit nach Kriegsende Makulatur. Kalte Wut steigt auf, je länger man in Giefers Buch liest, aber auch die Erkenntnis, daß Moral und Ethik vor dem Primat der Politik versagen müssen. Noch nicht mal ein paar Monate hat die Schamfrist gedauert, da konnten schon Zehntausende von Nazi-Funktionären, -Wissenschaftlern und -Ärzten auf offiziellen und geheimen Wegen nach Nord- und Südamerika flüchten, unterstützt von der katholischen Kirche, dem amerikanischen Geheimdienst und ihren eigenständigen Organisationen wie der ODESSA (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen). Niemand hielt sie in den ersten Wirren der Nachkriegszeit auf. Viele von ihnen konnten als unbescholtene Bürger in ihren neuen Heimatländern leben.

Erst der Fall Klaus Barbie, der 1983 in Bolivien aufgespürt und an Frankreich ausgeliefert wurde, eröffnete erneut die Diskussion über die geheimen Fluchtrouten der Nazis. Zu offensichtlich war die Rolle des amerikanischen Geheimdienstes, der Barbie bei seiner Flucht behilflich gewesen war. Zu Beginn des Kalten Krieges, als nicht mehr das gerade um einen hohen Preis besiegte Deutschland der Feind war, sondern die Sowjetunion, glaubte der CIA auf die Hilfe deutscher Nazis angewiesen zu sein. Angeblich hatte er nichts von der Rolle Barbies im Dritten Reich gewußt.

Erhard Dabringhaus, ein amerikanischer Verbindungsoffizier, war einer der wenigen, die sehr früh von der wahren Identität Barbies wußten: „Da sagte ich, Mensch, wir sind ja hier am arbeiten mit einem echten Kriegsverbrecher. Ich habe das natürlich nach oben gegeben und dachte, ich krieg 'ne Beförderung - und da sagte man mir, sei bitte ruhig, der Mann ist wertvoll.“ Es muß bitter für die verhörenden Verbindungsoffiziere gewesen sein, die häufig aus Deutschland geflüchtete Juden waren und eingesetzt wurden, weil sie die Sprache beherrschten, daß der fast ins Hysterische gesteigerte Antikommunismus sehr rasch die schrecklichen Taten der Deutschen verdeckte. So wurden die Täter oft erst nach Jahrzehnten entdeckt und als Greise vor deutsche Gerichte gestellt, wie der ehemalige Kommandant des Ghettos Przemysl Schwammberger, der nach einer Auslobung von 500000 Mark in Argentinien aufgespürt werden konnte. Man vermutet, daß auch er über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika gelangt ist, wo er anfangs noch nicht einmal seinen Namen hatte ändern müssen. Simon Wiesenthal, der sich die Jagd auf geflohene Nazi-Täter zur Lebensaufgabe gemacht hat, äußert sich über die späte Verhaftung: „Natürlich, einen älteren Mann, den sie vor Gericht stellen, da hat die Bevölkerung Mitleid, armer alter Mann. Gegenüber einem, der nie Mitleid hatte.... Wir aber wollen etwas für die Zukunft tun, weil vielleicht jetzt in dem Augenblick, die Mörder von morgen geboren werden. ... die sollen wissen, gerade im Fall Schwammberger, 48 Jahre nach der Tat, in einer Entfernung von 10000 Kilometern vom Ort der Tat: sie werden, die Mörder von morgen, genauso wie dieser, keine Ruhe haben.“

Als Ende der siebziger Jahre die amerikanische Archive zum ersten Mal für Wissenschaftler und Journalisten zugänglich gemacht wurden, nahmen die Recherchen über das Verschwinden alter Nazis eine neue Richtung und machten das ganze Ausmaß der antisowjetischen Politik deutlich, die viele Täter ihrer gerechten Strafe entzogen hatte. Jetzt war man in der Lage, die Rattenlinie vollständig zu rekonstruieren: Entlang der Paßstraßen von Österreich nach Italien waren sogenannte Relais-Stationen eingerichtet worden (auch Rattenhäuser genannt), in denen sich die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Rom verbergen konnten. Dort fanden sie Aufnahme in der vatikanischen Mission von Bischof Hudal, der eingeweiht war und in seinen Memoiren mit Stolz auf seine Beteiligung verwies. „Der Vatikan begründete seine Beteiligung an dem illegalen Menschenhandel mit seinem Wunsch, nicht nur europäische, sondern auch lateinamerikanische Länder mit Menschen - unabhängig von ihrer politischen Richtung - zu infiltrieren, wenn sie nur Antikommunisten sind und pro katholische Kirche“, heißt es in einem amerikanischen Geheimdienstbericht. In Rom wurden die Flüchtlinge vom Roten Kreuz mit Visa versorgt. Von dort ging es mit einem Schiff nach Übersee. Die Liste der Topgrößen des Nazireiches, die sich auf diesem Weg einer Verhaftung entziehen konnten, ist lang: Neben Schwammberger und Barbie, reisten Adolf Eichmann, der Auschwitz-„Arzt“ Mengele und Franz Stangl, ehemals Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka auf der Rattenlinie. Nicht nur Bischof Hudal half den Verbrechern, in ganz Italien hatte sich ein Netz von Organisationen etabliert, die in Verbindung mit dem Vatikan standen oder sich der Hilfe kirchlicher Würdenträger bedienten.

Sehr viel offener als die Rattenlinie verlief das Unternehmen Paperclip, das bereits im Sommer 1945 anlief. Das Oberkommando der amerikanischen Armee hatte nämlich entschieden, eine Reihe deutscher Gefangener „ausgewählte, außergewöhnlich kluge Köpfe (wieder-) zu verwenden, deren anhaltende geistige Produktivität wir ausnützen möchten.“ Besonders interessiert war man an den Wissenschaftlern, die Hitlers Wunderwaffe, die V 2, entwickelt hatten. Der Bau der Raketen im Stollen Dora des KZ Nordhausen im Harz hatte über 20000 Zwangsarbeitern das Leben gekostet. Während noch die Bilder der Massengräber in der amerikanischen Wochenschau gezeigt wurden, hatte man schon die Verhandlung mit den geistigen Vätern der Rakete aufgenommen. Wernher von Braun, Walter Dornberger und Arthur Rudolph arbeiteten als anerkannte Wissenschaftler in den USA und gelangten in Folge der ersten Mondlandung zu Weltruhm. Bis in die fünfziger Jahre wurden über 1000 Wissenschaftler, die mit menschlichen Versuchskaninchen gearbeitet, Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen bis zu ihrem Tod durch Unterernährung und Erschöpfung eingesetzt hatten, in die USA geschleust. Ebenso verfuhr man mit den NS- Ärzten, die Experimente an lebenden KZ-Häftlingen durchgeführt hatten und in den USA als Raumfahrtmediziner tätig waren.

Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern, sie reicht bis zu Reinhard Gehlen, ehemaliger Leiter der Aufklärungsabteilung „Fremde Heere Ost“ und eine der Schlüsselfiguren der mörderischen Feldzüge gegen die Sowjetunion. Er arbeite nach Kriegsende mit den Amerikanern am Aufbau eines antisowjetischen Geheimdienstes. Wohlweislich hatte er sein Geheimarchiv auf Mikrofilm kopiert und so eine gute Verhandlungsposition gegenüber dem CIA. Zwar stand er bis 1952 auf der Liste der meistgesuchten Kriegsverbrecher, aber sein Angebot überwog die moralischen Bedenken der Amerikaner. Gehlen machte bekanntlich als langjähriger Chef des Bundesnachrichtendienstes in Pullach Karriere.

Mit der Öffnung der amerikanischen Geheimarchive und dem damit verbundenen starken Interesse der Öffentlichkeit über dreißig Jahre nach Kriegsende, war die Jagd auf deutsche Kriegsverbrecher endlich nicht mehr einzelnen Personen und privaten Organisationen überlassen. Auf Initiative einer jungen Kongreßabgeordneten wurde eine Verfassungsänderung verabschiedet, nach der die Ausweisung von Nazi- Kriegsverbrechern vorgeschrieben ist. 1979 wurde das Office of Special Investigation (OSI) gegründet, dessen Aufgabe allein das Aufspüren von Kriegsverbrechern und die Verhängung eines Einreiseverbots für exponierte NS-Vertreter ist, auf der „watch-list“ stehen u.a. Kurt Waldheim und Herrmann Joseph Abs. Über 80 Fälle hat das Büro in jahrelanger Kleinarbeit zum Abschluß gebracht und die Ausweisung der Betroffenen erreicht, darunter Arthur Rudolph aus Wernher von Brauns Raketenteam, der heute allerdings unbehelligt in Hamburg lebt.

Thomas und Rena Giefer haben ein überaus kenntnisreiches Buch vorgelegt und vor allem versucht, über Einzelaspekte hinauszugehen und einen informierenden Überblick zu verschaffen. Eindeutig wird die durch nichts entschuldbare Motivation der USA, deutsche Kriegsverbrecher auf allen Ebenen des politischen und wissenschaftlichen Lebens in ihre Dienste zu spannen, transparent gemacht. Allerdings haben die Autoren nicht vergessen, wer die eigentlich Schuldigen sind, und daß man die Verantwortlichen, die heute unbehelligt unter uns leben, nicht in Ruhe lassen sollte.

Rena und Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Eine Dokumentation

Hain Verlag, Frankfurt/Main. 280 Seiten mit Personenregister, Abb., Dokumenten und Literaturliste. 250 S., Broschur, DM 38