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Weder Selbstentsorgung noch Selbstkult

Wilhelm Schmid über Foucaults „Technik der Existenz“  ■ Von Gerburg Treusch-Dieter

Wer Augen hat zu lesen, der braucht dem Buch von Wilhelm Schmid Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault nichts hinzuzufügen. Bezogen auf die Fragen, die beantwortet werden sollen, steht alles drin. Die fundierte Argumentation ist stets erklärend und verzichtet auf jeden Modejargon. Ihr Einsatz ist die aktuelle Situation, in der Lebensform, Lebensstil und Lebenskunst problematisch und damit Indiz für fundamental veränderte Bedingungen individueller Existenz geworden sind.

Tradierten Ethiken und Morallehren fehlt die Verbindlichkeit oder die Antwort; die Individuen sind desorientiert. In ihrer Konsequenz bedeutet diese Situation, daß nicht nur die Seinsweise des einzelnen, sondern die aller in Frage steht. Die Neubegründung der Ethik, wie sie Wilhelm Schmid mit Foucault unternimmt, verweist darum auf eine „Lebenskunst des Menschen als Gattung“, obwohl dieser Allgemeinbegriff dem widerspricht, worum es geht: nicht um einen kategorischen Imperativ, sondern um individuelle Sebstverantwortlichkeit.

Appelle an Selbstverantwortlichkeit sind an sich zur Genüge bekannt. Sie werden seit der Aufklärung in unterschiedlichsten Varianten des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem durchgespielt. Doch eine Ethik, die auf individueller Selbstverantwortlichkeit gründet, ohne daß das Besondere das Allgemeine repräsentieren muß, ist der Erfahrung entzogen — so sehr, daß sie nur durch Denkarbeit einzuholen ist.

Eine Frage Wilhelm Schmids lautet, warum dem modernen Subjekt „der Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nicht gelang, den die Aufklärung versprach — eine Frage, die für die Neubegründung der Ethik ausschlaggebend ist. Eine erste Antwort ist, daß „modern sein heißt, sich selbst zum Objekt einer komplexen und schwierigen Ausarbeitung zu machen“. Anders ausgedrückt, das mündige Subjekt will von sich selbst, soweit es unmündiges Objekt ist, alles wissen, während es ihm umgekehrt sagt, was es wissen soll. Dieser „Wille zum Wissen“ ist, mit Foucault und Wilhelm Schmid gesprochen, paradigmatisch für die „Haltung der Modernität“. Er schließt ein, daß der einzelne beides ist: Subjekt und Objekt. Und, daß er sich stets innerhalb des Gegensatzes von Identität und Differenz bewegt. Ihn hat er in sich selbst auszutragen: durch eine permanente Anpassung der Differenz an die Identität. Die Paradoxie, die diese Bewegung gesellschaftlich ausmacht — daß nämlich gerade die Besonderheit, das Individuelle der Norm entspricht — ist uns inzwischen geläufig.

Es handelt sich um einen Selbstbezug, der keine Selbstverantwortlichkeit, sondern Selbstunterwerfung zugunsten der Verhaltensnorm konstituiert; dies schließt einen politischen „double bind“ von Anpassung und Widerstand ein. Die Form dieses Selbstbezugs, wie er sich im modernen „Subjekt des Wissens“ zwischen Bewußtsein und „Unbewußtem“ abspielt, ist die Psychologie. Sie funktionert als Selbsthermeneutik, der die „Selbstinternierung“ vorausgesetzt ist. Ob das dabei internalisierte „Geheimnis“ des Unbewußten nun Wahnsinn, Krankheit oder Verbrechen genannt wird: es sind diese drei „Höllen“, die Foucault als Ansatzpunkt der modernen „Normalisierungsgesellschaft“ im „Willen zum Wissen“ (dem ersten Band der Geschichte der Sexualität) herausarbeitet, um zu zeigen, wie sich die Biopolitik der Körper mittels der Macht/ Wissens-Mechanismen der Selbstunterwerfung „psychologisch“ realisiert.

Der ersten Antwort darauf, warum dem modernen Subjekt „der Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nicht gelang, ist darum hinzuzufügen: die Neubegründung der Ethik muß der Psychologie als Herrschaftstechnologie etwas entgegensetzen — eine Selbsttechnologie, die einen philosophischen Selbstbezug konstituiert. Was heißt heute philosophisch leben? — das ist die Frage, die für Wilhelm Schmid aus der aktuellen Situation der Desorientierung resultiert, ohne daß sie allerdings von der Philosophie selbst begriffen wird. Die Neubegründung der Ethik will darum „Philosophie als Lebenskunst“ in doppelter Hinsicht sein: Sie erschließt ein altes Feld der Philosophie neu — die Geschichte der Lebenskunst; und sie hat den Anspruch einer Erneuerung der Philosophie.

Wilhelm Schmid gründet dieses Forschungs- und Erkenntnisziel auf Foucault, was für ihn jedoch nicht bedeutet, daß das Verhältnis von Ethik und Lebenskunst als „Quintessenz“ des Foucaultschen Denkens zu bezeichnen sei. Statt dessen betont Wilhelm Schmid zu Recht seine „eigene Wahl“ und damit, implizit, seine eigene Leistung, die grundlegend darin besteht, daß er die Foucaultsche Arbeit, vor allem unter Einbeziehung der „Analytik der Macht“ und der „Archäologie der Humanwissenschaften“, für eine Neubegründung der Ethik überhaupt erst erschließt und weiterdenkt.

Wilhelm Schmid öffnet dabei die Philosophie auf das Problem der „philosophischen Lebensform“ hin, indem er gegen ihre Systematizität eine „philosophische Aktivität“ praktiziert, wie sie Foucault als „politischer Intellektueller“ und „Historiker“ initiierte. In diesem Kontext ist besonders hervorzuheben, daß Wilhelm Schmid seine Arbeit durch eine minutiöse Denkbiographie fundiert, die er aus Materialien des Pariser Foucault-Archivs (u.a. Vorlesungs- und Interview-Mitschriften) herauspräpariert. Sie reaktiviert die innere Dramatik theoretischer Entscheidungen Foucaults, die erst im Zusammenhang einer Neubegründung der Ethik, wie sie Foucault selbst intendierte, einleuchtend werden.

Nicht zuletzt aufgrund dieses Zusammenhangs gelingt es Schmid außerdem, stereotyp gewordene „Vorurteile“ der Foucault-Rezeption aufzubrechen. Sei es, daß Foucault als Aufklärer bestritten; sei es, daß ihm ein Nihilismus der Macht, ein strukturalistischer Ansatz oder, noch immer, Antihumanismus vorgeworfen wird. Nicht, daß Wilhelm Schmid sich auf diese „Vorurteile“ kapriziert. Er stellt sie sozusagen im Vorübergehen richtig, indem er bei seiner Neubegründung der Ethik den von der Foucault-Rezeption bisher vernachlässigten Zusammenhang von Macht und Freiheit ins Zentrum rückt.

Unter diesem Aspekt ist es besonders interessant, wie Wilhelm Schmid die Umgewichtung Foucaults, weg von der modernen und hin zur antiken Subjektkonstitution, am Begriff der „Regierung“ präzisiert. Foucault liest diesen Begriff in dem Maß nicht mehr nur herrschafts-, sondern auch selbsttechnologisch, wie er sich vom „Willen zum Wissen“ löst, um sich im zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität mit der Antike auseinanderzusetzen. Hier sei ein letztes stereotypes „Vorurteil“ erwähnt, dem Wilhelm Schmid entschieden entgegentritt: nie habe Foucault eine „Rückkehr“ zur Antike intendiert. Es sei „strikt zu unterscheiden zwischen der historisch-genealogischen Arbeit über die Antike, die ihre eigene Systematik hat und deskriptiv verfährt, und der Aktualisierung einiger Elemente, die systematisch zu erörtern sind und durchaus normativen Charakter annehmen können“.

Foucault entdeckt in der Antike eine „Technik der Existenz“, die keine passive, sondern eine aktive Selbstkonstituierung einschließt. Von hier aus läßt sich der Selbstunterwerfung des modernen Subjekts die „Regierung seiner selbst“, seiner Internalisierung von Verhaltensnormen die „Stilistik der Form“ entgegensetzen: keine Disziplinarstruktur, sondern eine „Ästhetik der Existenz“. Sie ist es, die auf die aktuelle Desorientierung zu antworten hat. Dabei geht es nicht um eine „zum Code“ geronnene Moral, wie sie durch einen kategorischen Imperativ gefordert wäre, sondern um eine an der „Ethik“ orientierte Moral, die Selbstherausforderung, Selbstverantwortlichkeit im agonalen Sinne ist.

Schmid zielt damit auf eine Perspektive „des Andersdenkens und Anderslebens“, die für die Erneuerung der Philosophie bedeutet, daß sie nicht nur logos, sondern ebenso ergon, tägliche Aktivität, zu sein hat; nicht nur Diskurs, sondern Lebensform: bios philosophos, der zur Biopolitik der Körper Gegenentwurf ist. Philosophie als ergon kontert den „Willen zum Wissen“ durch ein Denken, das „Äußerung, Veräußerlichung“ praktiziert. Ein „Aus-sich- Herausgehen im philosophischen Leben, das eine exoterische Wendung markiert“, die das moderne Subjekt, folgt man Wilhelm Schmid, als Umkehrung in sich selbst zu vollziehen hat — wenn es das Versprechen der Mündigkeit da wieder aufnehmen will, wo die Aufklärung zwar den logos versprach (der inzwischen zum Psycho-logos regredierte), aber keinen agon als ergon: keine Selbstherausforderung als aktive „Ethik der Existenz“, die nur sich selbst verantwortlich ist.

Die ultima ratio von Wilhelm Schmids Suche nach einer neuen Lebenskunst ist darum eine „Politik des Selbst“, die keine „Sorge um sich“ als Selbstentsorgung ist; kein Selbstkult und auch keine Sexistenz. Sie meint statt dessen „Regierung seiner selbst“, die sich aus dem politischen „double bind“ von Anpassung und Widerstand entläßt, indem sie sich nicht von innen, sondern von außen denkt: als „Ästhetik der Existenz“, die einen neuen politischen Index konstituiert. In diesem und im Sinne dessen, daß dieses Buch einen konsistenten philosophischen Ansatz und eine unverzichtbare Einführung in Foucault präsentiert, ist es aufs dringlichste dem selbstverantwortlichen Lesen zu empfehlen.

Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault.

Suhrkamp Verlag, 452 Seiten, gebunden, DM 48

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