Französische Moslems zwischen Ghetto und Sonderstatus

Islamistische Studentengruppen fordern vom Staat die Anerkennung moslemischer Traditionen, Anerkennung ihrer Feiertage, wollen Moscheen bauen/ Viele Einwanderer befürchten jedoch eine zunehmende gesellschaftliche Isolierung/ Trend in der französischen Öffentlichkeit: Was fremd ist, bedroht die moderne Gesellschaft  ■ VON ANNE-BEATRICE CLASMANN

Wegen öffentlicher Kritik am Islam hat das französische Ministerium für Soziales Anfang der Woche den Direktor des Amtes für Internationale Migration, Jean-Claude Barreau, entlassen. In seinem im September erschienen Buch Über den Islam im Allgemeinen und über die moderne Welt im Besonderen hatte Barreau die Unvereinbarkeit der „archaischen moslemischen Haltung“ mit der modernen Zivilisation und der Integration in die französische Gesellschaft festgestellt. Das Ministerium für Soziales begründete die Entlassung, in der Öffentlichkeit solle nicht der Eindruck entstehen, Barreau spreche im Namen des Ministeriums.

Der 58jährige Autor und ehemals katholische Priester sagte während einer Pressekonferenz, er glaube, daß die Regierung ihn auf Druck der Moslems entlassen habe. Er fühle sich in seiner Ansicht bestätigt, daß der Islam für intellektuelle Kritik tabu sei.

Moslems sind nach den Katholiken die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Frankreich. Und eine in diesem Jahr von Paul Balta veröffentlichte Studie zeigt, ganz im Gegensatz zu Barreaus Ansicht, daß 93 Prozent der in Frankreich lebenden Moslems davon überzeugt sind, die private Ausübung ihrer Religion stünde einer Integration nicht im mindesten im Wege.

Auch die Organisation für den islamisch-christlichen Dialog (ADIC) kritisierte Barreau heftig: Er habe die Moslems durch seine tiefe Unkenntnis der islamischen Kultur diskriminiert. Da das französische Prinzip der strikten Trennung von Staat und Kirche eine Befragung der Bevölkerung zu ihrer Konfession nicht gestattet, gibt es keine genauen Angaben über die Zahl der Moslems in Frankreich. Man geht von zirka 3,5 Millionen Menschen aus, die sich im weitesten Sinne zum moslemischen Glauben bekennen. Das sind fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Großanteil stammt aus den drei Maghrebstaaten: Algerien, Marokko und Tunesien.

Rückkehr der Religion ins öffentliche Leben

Im Herbst 1989, als man drei Mädchen von der Schule ausgeschlossen hatte, nachdem sie sich geweigert hatten, ihre islamischen Kopftücher (hijab) abzunehmen, war in Frankreich erneut eine leidenschaftliche Diskussion über die Trennung von Kirche und Staat entbrannt. Islamistische Studentengruppen forderten von der französischen Regierung eine „positive Diskriminierung“ der moslemischen Bevölkerung, das heißt einen Sonderstatus der Moslems in bestimmten Fragen des gesellschaftlichen Lebens, wie Heirat, Scheidung, religiöse Feiertage. Dieser Sonderstatus sollte, nach dem Willen der Islamisten, die Gemeinschaft stärken. Im Sinne aller Moslems wäre diese Sonderbehandlung jedoch nicht. Viele befürchten eine verstärkte Ghettoisierung. Auch widerspräche dieses Prinzip der französischen Tradition der „individuellen Integration“.

Unverhoffte Schützenhilfe erhielten die religiösen Eiferer von katholischer und jüdischer Seite. So machte sich auch Kardinal Decourtray, Erzbischof von Lyon, stark für das Anliegen der moslemischen Mädchen und propagierte die Rückkehr der Religion ins öffentliche Leben.

Im sunnitischen Islam gibt es keine Hierarchie der Religionsgelehrten. So fiel es Regierungsvertretern bisher schwer, unter den zirka 600 Organisationen der Moslems in Frankreich repräsentative Gesprächspartner zu finden. Noch unter dem Eindruck der durch die Kopftuch-Affäre ausgelösten Diskussion, suchte der damalige Innenminister Pierre Joxe im März 1990 händeringend nach einem offiziellen Gremium für die Belange der Moslems in Frankreich. Er schuf eine Art „Rat der Weisen“ des französischen Islam (das „Comité de réflexion sur l'islam en France“, CORIF), der unter den Gläubigen jedoch bis heute kaum bekannt ist und keinerlei rechtlichen Status besitzt.

Während des letzten Golfkrieges, der besonders von den Medien als eine Art Glaubenskrieg dargestellt wurde, gelang es den Mitgliedern des CORIF jedoch, in der angespannten Atmosphäre — aus Angst vor Bombenanschlägen waren die Gepäckschließfächer der Pariser Metrostationen geschlossen, die Mülleimer abmontiert — beruhigend auf ihre Glaubensgenossen einzuwirken.

Eine Überraschung erlebten während dieser Zeit die Königshäuser Saudi-Arabiens und Kuwaits. Viele der von ihnen bezahlten Imame forderten in Frankreichs Moscheen das Ende der Herrschaft des Emirs von Kuwait. Aus der finanziellen Unterstützung der Reislamisierungsbewegungen in aller Welt haben sich die Golfstaaten seit dem Krieg merklich zurückgezogen. Einigen Bauherren französischer Moscheen droht das Geld auszugehen.

Die französische Reislamisierungsbewegung wird zu einem großen Teil von der Generation der beurs, der im Lande geborenen Moslems maghrebinischer Abstammung, vorangetrieben. Das Erklärungsschema eines ferngesteuerten, religiösen Fanatismus ist hier nicht allein anwendbar. Während die großen Islamistenbewegungen des Maghreb vor allem von dem Fehlen einer wirklichen politischen Opposition profitieren, ist es wahrscheinlich auch die wachsende Fremdenfeindlichkeit der Franzosen, die aus der französischen Reislamisierungsbewegung ein Ventil für die Identitätsprobleme der Moslems in Frankreich gemacht hat. Viele Nordafrikaner leben bereits seit über zwanzig Jahren in Frankreich. Die Rückkehr in die alte Heimat der Eltern kommt für die Kinder dieser Leute meist nicht mehr in Frage. Die Machtverhältnisse kehren sich um in Familien, wo der Vater arbeitslos wird. Er ist meist Analphabet. Um sein Arbeitslosengeld, seine Krankenversicherung kümmern sich seine Kinder, die eine französische Schule besucht haben.

Die geplante Errichtung einer islamischen Universität in einem für 2,5 Millionen Francs erstandenen Schloß bei Saint-Léger-de-Fougeret in Mittelfrankreich ist der neueste Stein des Anstoßes. Die Ausbildung eigener Imame und Religionslehrer soll dem französischen Islam angeblich eine größere Unabhängigkeit von den Königshäusern Saudi-Arabiens und Kuwaits bescheren. Der Institutsdirektor Zuhair Mahmud hat bereits einen Antrag beim Bildungsministerium eingereicht, um den Hochschulabschluß offiziell anerkennen zu lassen.

Das Komitee CORIF meldete bei einem Zusammentreffen mit Innenminister Marchand Anfang September Bedenken gegenüber dem Projekt an: „Unter dem Deckmantel der Lehre könnte dort eine bestimmte Ideologie vermittelt werden.“ Der Soziologe Gilles Kepel drückt sich deutlicher aus: „Die Organisatoren dieser Universität stammen aus dem Umfeld der militanten Moslembruderschaft. Ihr Ziel ist ein islamischer Staat. Ich glaube nicht, daß dieses Projekt einen großen Zulauf haben wird.“

Kreuzritter des 20.Jahrhunderts

300 Anhänger der rechtsextremen „Front National“ hatten sich am 6. Oktober in der Nähe der geplanten Universität versammelt. Marie- France Stirbois, Mitglied des politischen Büros des Front National, rief die Teilnehmer der Demonstration dazu auf, zu „Kreuzrittern des 20. Jahrhunderts zu werden“, und forderte: „Raus mit den Bärtigen!“ Es bleibt abzuwarten, ob solche Angriffe die moslemische Bevölkerung doch noch zu einer gemeinsamen Unterstützung der Universität bewegt.

Tritt die moslemische Gemeinde Frankreichs mit ihrem Glauben aus dem streng privaten Rahmen heraus, so muß sie in letzter Zeit immer häufiger mit Schikanen und Angriffen rechnen. Anfang Oktober wurden das Rathaus und das islamische Gebetshaus in Charvieu-Chavagneux (Départment Isère) zum Ziel von Brandanschlägen, wobei einige Büroräume zerstört wurden. Die Gläubigen entdeckten in ihrem Gebetssaal einen nicht explodierten Molotow-Cocktail. Der Bürgermeister, der eine Woche vor den Anschlägen die Wasserversorgung des Gebetshauses hatte sperren lassen, hatte sich bereit gefunden, sie zumindest während der dort stattfindenden Französischnachhilfekurse wiederherzustellen.

Auch liegen Äußerungen, die den Islam, den Afrikaner, das Fremde schlechthin zur Bedrohung hochstilisieren momentan im Trend, wie das Buch Barreaus gezeigt hat. So gelangte, der vorher in der Wählergunst auf Platz vier rangierende Giscard d'Estaing mit seinem Horrorszenarium von der „Invasion“ der Einwanderer in kürzester Zeit auf Platz eins der Hitliste seiner Partei.