Über Ahrensdorf geht ein Stern auf

Mercedes-Benz will einen „Beitrag zur Industrialisierung der neuen Bundesländer“ leisten/ Ein Bebauungsplan mit starken rechtlichen Lücken ist auch schon da/ Alles hängt an Rudi Fuchs, der seinen Boden nicht für einen Spottpreis verkaufen will  ■ Von Barbara Geier

Die Atmosphäre in der 385-Seelen- Gemeinde Ahrensdorf ist geladen. Der Pfarrer klagt über verlorengegangene menschliche Beziehungen im Dorf, die Bürgermeisterin ist verzweifelt. Schuld an der aggressiven Stimmung im Örtchen am Rande Berlins ist Rudi Fuchs und seine über 80jährige Mutter. Als einzige von 73 Landbesitzern in Ahrensdorf wollen sie ihren Besitz nicht für 12 Mark pro Quadratmeter verkaufen.

Die beiden Verfemten wagen sich kaum noch aus ihrem verbarrikadierten Haus. Sie sollen von erbosten Nachbarn Drohbriefe erhalten haben. Die fürchten nämlich, daß durch die sture Weigerung der Familie Fuchs der ganzen Gemeinde ein „Superangebot“ aus dem Westen durch die Lappen geht: Mercedes- Benz will auf ihren Feldern ein Lkw- Werk errichten.

Doch auch die Stuttgarter stehen unter Druck. Mitte Juni 1992 laufen die Optionsverträge des Konzerns mit den Grundstückseignern aus. Ob sich danach der Preis von 12 Mark noch halten läßt, ist angesichts des inzwischen ermittelten Wertes von mindestens 70 Mark fraglich. Immerhin liegt Ahrensdorf nur zehn Kilometer von der Berliner Stadtgrenze und 25 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und hat direkten Anschluß zur Autobahn und Reichsbahntrasse Berliner Ring. Darum soll im März nächsten Jahres, passend zur 750-Jahr-Feier von Ahrensdorf, auch die Grundsteinlegung sein.

Von Anfang an hat sich Mercedes- Vorstandssprecher Werner Niefer an den obersten Dienstherrn Brandenburgs gehalten. Da der sozialdemokratische Ministerpräsident Manfred Stolpe ohnehin als Freund der Stuttgarter gilt, hätte es wahrscheinlich gar nicht des erpresserisch anklingenden Briefs der Konzernherren an das Ministerpräsidentenbüro bedurft, um für Druck von oben zu sorgen. Mit dem obligatorischen Hinweis, ihre geplante Investition in Höhe von einer Milliarde Mark sei vor allem ein „Beitrag zur Industrialisierung der neuen Bundesländer“, weist Niefer in seinem Schreiben vom 21.März 1991 noch „ergänzend“ darauf hin, „daß es uns ohne weiteres möglich wäre, die genannten Zielvorstellungen auch an unseren traditionellen Standorten Düsseldorf und Wörth mit einem erheblich geringeren finanziellen Aufwand zu verwirklichen“. Stolpe möge doch seinen Kabinettsmitgliedern die Mercedes-Beweggründe „verdeutlichen“. Mit oder ohne Anregung von oben beschloß denn auch die Gemeindevertretung am 12.August den Entwurf des Bebauungsplans Nr.1 mit folgendem „Planziel“: Festsetzung eines Industriegebiets zur Ansiedlung eines Nutzfahrzeugwerks. 30% der Gesamtfläche des Dorfes, rund 245 Hektar, werden zur industriellen Bebauung freigegeben, etwa siebzig Hektar davon Nadelgehölz und zwanzig Hektar Laubwald. 140 Hektar werden bis heute landwirtschaftlich genutzt. Die restliche Fläche gilt als unersetzliches Biotop. Außerdem liegt der Planbereich in der Trinkwasserschutzzone III der beiden Wasserwerke von Ludwigsfelde (23.000 Einwohner).

Daß das Plangebiet von einer überregionalen Gas- und Fernmeldeleitung durchkreuzt und von einer Starkstromleitung überzogen ist, dürfte als technisch zu bewältigendes Problem weniger schwer wiegen. Merkwürdig mutet nur an, daß ausgerechnet die Existenz einer Starkstromleitung von den Stuttgartern als Haupthindernis für die Bebauung einer nur wenige Kilometer entfernt liegenden Alternativfläche — der Standort Genshagen nordöstlich von Ludwigsfelde — angegeben wird.

Eine mögliche Erklärung für den Widerwillen gegen das alternative Gewerbegebiet reicht in die jüngste Geschichte zurück. Genshagen ist für Daimler-Benz kein unbekannter Begriff. Hier verbarg sich bis 1944 unter schützendem Waldlaub der „Nationalistische Musterbetrieb“ Waldwerk Genshagen, hier stellte der Rüstungskonzern die kriegstüchtigen Flugzeugmotoren DB 600, DB 601 S/F und ab 1941 das Spitzenprodukt deutscher Rüstungstechnologie, den DB 605 her, der ausschließlich für militärische Zwecke gebaut wurde. Die baskische Stadt Guernica wurde am 26.April 1937 im wesentlichen von Schnellbombern He 111 zerstört, die mit DB 601-Flugzeugmotoren ausgerüstet waren. Noch im Frühjahr 1944 schufteten hier knapp elftausend „Ostarbeiter“, außerdem sowjetische und französische Kriegsgefangene, italienische Militärinternierte und zum Schluß auch KZ-Häftlinge. Auf einem durch Bombenangriffe zerstörten Teil des Werksgeländes wurde ab September 1944 ein Außenkommando des Konzentrationslagers Sachsenhausen errichtet. Im Frühsommer 1944 haben alliierte Flugzeuge zwei Drittel der Daimler-Gebäude des „Waldwerks Genshagen“ in Schutt und Asche gebombt, den Rest sprengte ein Jahr später die Rote Armee.

Doch nicht nur in Genshagen hätte Mercedes-Benz investieren können. Unmittelbar daneben liegt das ehemalige DDR-Lastkraftwagenwerk IFA (Industrieverwaltung Fahrzeugbau — d.Korr.), in dem bis zur Einführung der D-Mark knapp neuntausend Mitarbeiter die dann nicht mehr konkurrenzfähigen DDR-Lastkraftwagen W50 und L60 produzierten.

Am 12.März 1990 unterzeichneten die Stuttgarter und IFA ein „Memorandum of Understanding“ über die gemeinsame Produktion eines Lkw mit der Typenbezeichnung „1318“. Aus der leicht modernisierten Version des Wüstenfahrzeugs L60 sollte mit Hilfe eines von Mercedes gestalteten Fahrerhauses ein neuer Lkw auf den Markt geworfen werden. Am 3.Mai war der Prototyp fertig, am 18.Juli wurde alles wieder abgeblasen. Offensichtlich war plötzlich jegliches Interesse des Daimler-Konzerns an einer Kooperation oder Übernahme des Ludwigsfelder Geländes erloschen. Jetzt werden erst einmal, bis das Ahrensdorfer Werk steht, in Fertigungshallen der ehemaligen IFA Mercedes- Laster montiert. Die Montagegesellschaft kassiert dafür, wie der 'Spiegel‘ herausgefunden hat, von der Treuhandanstalt hundert Millionen Mark. Daimler ist fein raus: Man hat nichts mehr mit den Entlassungen von Tausenden Arbeitern zu tun, bietet aber großzügig Aussicht auf die Beschäftigung von viertausend Menschen, die in Ahrensdorf jährlich 40.000 Lkw bauen dürfen.

Und noch etwas ließ die Stuttgarter vor einer Übernahme des ehemaligen IFA-Geländes zurückschrecken. Unter der Erde lagern sanierungsbedürftige Altlasten, und den Betrieb drücken Altschulden in Millionenhöhe. Für beides muß jetzt die Treuhand einstehen. Mercedes- Sprecher Werner Niefer: „Wir fangen auf der grünen Wiese neu an.“

Jetzt fehlt nur noch die Baugenehmigung. Der Bebauungsplan Nr.1 hat öffentlich ausgelegen, Umweltgutachten sind angefordert und geschrieben worden, die Bürger waren am Verfahren beteiligt, wenn auch nicht in dem Maße, wie es in Westdeutschland noch üblich ist.

Gegen den Bebauungsplan liegen seit einigen Wochen rund dreihundert Einwendungen von Einzelpersonen, Bürgerinitiativen und Kommunen vor. Selbst die stärkste Befürworterin der Mercedes-Ansiedlung, die Gemeinde Ahrensdorf, äußert Bedenken. Die frühzeitige Bürgerbeteiligung („eine Farce“) habe in keiner Hinsicht den gesetzlichen Anforderungen genügt. Standortvarianten seien nicht ausreichend untersucht worden. Die Frage der künftigen Wasserversorgung bliebe „gänzlich offen“, außerdem hätte im Bebauungsplan erwähnt werden müssen, daß der Eingriff in das Landschaftsbild nicht ausgleichbar sei. Mehrere schwerwiegende Auswirkungen auf die Natur seien überhaupt nicht genannt, zum Beispiel Störungen der empfindlichen Fauna („insbesondere Kraniche, Schwarzstörche, Weißstörche“). Ebenfalls nicht erwähnt werde die Vernichtung von Ackerbegleitflora mit Arten der roten Liste. Statt Ersatzmaßnahmen bezogen auf bestimmte Örtlichkeiten festzulegen, werde im Plan sofort auf die dritte Stufe, die Ausgleichsabgabenordnung übergegangen. „Dieses Vorgehen ist rechtswidrig.“

Jetzt soll über die Einwendungen entschieden werden. In Ahrensdorf und Ludwigsfelde rechnet niemand damit, daß aus Rücksicht auf Natur das Bauvorhaben hinausgezögert wird. Auch das Brandenburger Umweltministerium soll geneigt sein, gegen viereinhalb Millionen Mark Ausgleichszahlungen über die Zerstörung von Ökotopen und über Lärm- und Geruchsbelästigungen der Bevölkerung hinwegzusehen. Schließlich geht es ja um den erwähnten „Beitrag zur Industrialisierung der neuen Bundesländer“. Dem schließen sich fast alle Ahrensdorfer an: „Wer heute noch gegen dieses Werk ist, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.“ Für diesen Satz, in der Bürgerversammlung zum Bebauungsplan ausgesprochen, erhielt eine Ahrensdorferin großen Beifall.