Nicht alle Polen handeln mit Zigarettenspitzen

■ Der Zäckericker Verkehrs- und Verschönerungsverein versprach »Wiese, Wasser, Wald! Schwimm-, Luft- und Sonnenbäder!« Der Krieg hat diese Verbindung gekappt/ Heute lassen sich immer öfter alte deutsche Dorfbewohner in Siekierki blicken

Ein abgestorbenes Bahngleis schiebt sich von Wriezen aus zur Oder vor. Endlos reihen sich ausrangierte Militärzüge und rostige Kühlwagen aneinander, verstopfen den Zugang zur Grenze. Brutal zerschneidet dieser gespenstige Schrotthaufen die Bruchlandschaft.

Früher, vor dem letzten Krieg, fuhren Personenzüge fünfmal täglich auf der Königsberger Strecke von Berlin aus bis über die Oder nach Zäckerick (heute Siekierki). Zwei Reichsmark und 80 Pfennige kostete die Fahrkarte, und nach gut zweieinhalb Stunden waren die erholungsbedürftigen Hauptstädter in dem Dorf am Ostrand der Oder angelangt. »Alles, was Ihnen not tut«, versprach der Zäckericker Verkehrs- und Verschönerungsverein den Besuchern in einem schlichten Faltblatt: »Wiese, Wasser, Wald! Schwimm-, Luft- und Sonnenbäder! Keine Industrie!«

Der Krieg hat diese Verbindung gekappt. Im Januar 1945 bildete der Rest der Wehrmacht bei Zäckerick einen Brückenkopf. Doch unschlagbar begannen die sowjetischen Truppen ihre letzte große Operation: den Sturm auf Berlin. Das Dorf wurde geräumt. Viele Bewohner flohen in die nahen Wälder, andere wurden in Notquartieren jenseits der Oder untergebracht. Ende April war der Spuk vorbei. Die Zäckericker, die zurückkehrten, fanden sich in einer Trümmerwüste wieder. Unverzüglich machten sie sich an die Arbeit. Sie konnten nicht ahnen, daß sich die Siegermächte in Potsdam endgültig auf die Verschiebung des polnischen Territoriums nach Westen einigen würden. Im Austausch gegen die Ostgebiete jenseits des Bug mit den Städten Wilna und Lemberg (Lwow), die der Sowjetunion zugeschlagen wurden, erhielt Polen Ober- und Niederschlesien, den Ostteil der Mark Brandenburg, Hinterpommern, Westpreußen und den südlichen Teil Ostpreußens einschließlich Danzig (Gdansk). Die verbliebenen knapp vier Millionen Deutschen sollten auf Beschluß des Alliierten Kontrollrates in die Besatzungszonen Deutschlands ausgesiedelt werden. Am 21. Juni 1946 mußten die Zäckericker ihr Dorf verlassen. Jeder durfte nur 15 Kilogramm Gepäck mit auf den Weg über die Oder nehmen. In den leerstehenden Höfen richteten sich entwurzelte polnischen Frauen und Männer mit ihren Familien ein, die im Krieg aus Gegenden um Warschau, Posen und Danzig an die Oder gebracht worden waren, um als Zwangsarbeiter den deutschen Bauern zu dienen.

Heute, wo die Grenze zu Polen visafrei passiert werden kann, lassen sich immer öfter alte deutsche Dorfbewohner in Siekierki blicken. Auf der Suche nach der seligen Vergangenheit geben sie sich ganz dem Entsetzen über »ihre« verwahrloste Heimat hin. Jeder Baum, jeder Strauch wird inspiziert, die Dorfansicht aus allen Perspektiven im Bild festgehalten. Die Deutschen auf dem Nostalgietrip — sie sind Rudolf Wachowskis beste »Kundschaft«. Es hat sich herumgesprochen, daß der Sohn deutscher Eltern das Berliner Platt nicht schlechter beherrscht als die Leute im Oderbruch. Das Kriegsende hatte Wachowski als Halbwüchsiger in Berlin erlebt. Noch nach der Aussiedlung der Deutschen konnte er auf Vermittlung eines polnischen Offiziers in britischen Diensten nach Siekierki zurückkehren. Deutschland war damit für ihn passé. Das Leben ging trotzdem weiter: Wachowski fand ein gutes Weib und verdiente als Forstarbeiter sein Brot. Heute im Alter zeigt er den Deutschen, was »bei uns in Polen« los ist. Wortkarg und etwas müde, doch mit freundlicher Aufmerksamkeit begleitet er uns durch Siekierki und das benachbarte Dorf Dürren-Selchow, wo er aufgewachsen ist.

Wir treffen auf viele verlassene Gutshöfe, die auf den endgültigen Zerfall warten. Aus dem Fernsehen, erzählt Wachowski, habe er erfahren, wie westdeutsche Alteigentümer verbissen um ihre Besitztümer in der ehemaligen DDR streiten. »Warum kommen die nicht hierher?« Wachowski hofft auf den gutbetuchten deutschen Privatmann, der, hingerissen von der reizvollen Landschaft, die Dörfer vor dem Aussterben bewahrt. Hat er keine Angst vor Spekulanten? »Hier ist doch Platz genug für alle.« So denken viele Leute im Dorf. Ist es Blauäugigkeit oder lebensmüder Pessimismus, der den letzten Glauben an die eigene Kraft erstickt hat? Nicht zuletzt der Umrechnungskurs, nach dem eine harte Deutsch-Mark gegen 6.500 butterweiche Zloty getauscht wird, macht das polnische Land zum Schnäppchenmarkt. Dem normal sterblichen Polen wird bei Preisen von einigen zehntausend Mark schwindlig — solche Summen hat er sein Lebtag nicht besessen. Die Arbeiter im nahen Sägewerk zum Beispiel bringen im Monat umgerechnet kaum mehr als 200 Mark nach Hause.

Weder als Makler noch als verschrobener Nostalgiker kommt Gerhard Imme nach Siekierki. Obwohl auch er, als wir uns gemeinsam auf den Weg machen, in Erinnerungen schwelgt. Er erzählt von den pfeifenden Stalin-Orgeln und dem Hochwasser und den prächtigen Laubenhäusern, die beider Zerstörungskraft nicht widerstehen konnten. Mit gleicher Inbrunst »gedenkt« Imme Ereignissen jüngeren Datums. Was hat er im Hause der Grazyna Gajewska gezecht! Wie Feuer brannte ihn der scharfe polnische Schnaps in der Kehle. Wer über Nacht blieb, erzählen die Männer im Oderbruch, dem wurde ein polnisches Mädchen ins Bett gelegt. Das sei eben so ein alter Brauch.

Gerhard Imme wohnt in der Zäckericker Loose, dem Ableger des Mutterdorfes auf dem westlichen Ufer der Oder. Vom Bahnhof in Siekierki könnte er geradewegs über die Stahlbrücke, die in den 50er Jahren im Auftrag Moskaus als Vorbereitung auf den Tag X wiederaufgebaut worden war, nach Hause laufen. Aber noch versperren große Gitterzäune den Übergang. Weit kann man von den schnell ansteigenden Hügeln am Ostufer in das Oderbruch hinüberblicken. Viele deutsche Ansiedler ließen sich in der fruchtbaren Ebene nieder. Die Immes, ein uraltes und vermögendes Bauerngeschlecht, besaßen dort sogar noch fünf Hektar Land.

Das Leben in der Stunde Null war karg. In der Nacht schipperte der Vater, Hermann Imme, heimlich mit einem Kahn über die Oder. Nicht die Reste der Speisekammer und der zurückgebliebene Hausrat waren ihm dieses Abenteuer wert. Der besessene Ortschronist brachte das Kirchenbuch und Abschriften aus dem Zäckericker »Husbuch« in Sicherheit. Auf Grundlage dieser Quellen schrieb er in den Folgejahren die Geschichte des Fischerdorfes Zäckerick auf, die — so beweisen es Funde aus der Bronzezeit — 1.500 Jahre v.u.Z. begann. Goten, Burgunder, Vandalen, Sorben — die verschiedensten Völkerstämme unterbrachen ihre Wanderungen an der Oder. Mit Akribie notierte der alte Herr Besitzstände, Feuersbrünste, Bevölkerungszahlen. Leidenschaftlich macht er seinem Ärger über den Nazi-Bürgermeister Breitenfeldt Luft, weil der bei seinem Amtsantritt viele alte Akten und Urkunden verbrennen ließ. »Ein neues Zeitalter hat begonnen, es ist überflüssiger Ballast«, zitiert Imme den ignoranten Amtsmann. Ansonsten bleibt dieses Kapitel auffällig dünn. Kein Wort verliert der Chronist über die polnischen und russischen Zwangsarbeiter auf seinem Hof.

Im Krieg wurde auf dem Lande jede Hand gebraucht. Auch die Zäckericker Bauern konnten sich russische Kriegsgefangene, verschleppte Ukrainer oder Polen »bestellen«. Eine »biologisch wie ernährungspolitisch unhaltbare Lage«, schimpfte ein »echter Deutscher« im Brandenburgischen Bauernkalender von 1944 über den »Einsatz fremdvölkischer Kräfte«. Das »slawische Blut« würde die »Quelle ständiger Volkserneuerung verseuchen, Mundart, deutsche Kultur und Gesinnung zugrunderichten«.

Sein Vater sei zwar unter den Nazis Ortsbauernführer gewesen, aber nie ein »ganz Strammer«, meint Gerhard Imme. Sonst könne er sich heute nicht nach Siekierki trauen. »Ihr« Pole, zu dem sie noch lange nach dem Krieg Kontakt hatten, lebt nicht mehr in dem Dorf. Wenn Imme nach »drüben« fährt, schaut er bei Grazyna Gajewska und ihrer Familie vorbei. Ihre Mutter hat als junges Mädchen im Oderbruch arbeiten müssen. Gut sei es ihr gegangen. Sie brauchte das große »P« nicht an der Jacke zu tragen. Die alte Frau hat keine Angst vor den Deutschen. Die sollen nur kommen und etwas von ihrem Wohlstand mitbringen. Sie selbst habe einmal zwölf Kühe im Stall gehabt und gut davon leben können. Doch Anfang der 80er Jahre sanken die Aufkaufpreise für Milch und Fleisch bis unter die Schmerzgrenze — die Viehhaltung wurde zum Verlustgeschäft. Die steinigen Böden ringsum geben nicht viel her, und nur der Wald, der noch immer staatliches Eigentum ist, ernährt die Menschen. Polen ist Grazynas Mutter egal und auch das benachbarte Palaver um die Grenze zu Deutschland. »Heimat ist dort, wo es Brot gibt«, sagt sie und schiebt einen Fluch auf die Solidarność nach. »Vaterland bleibt Vaterland!« fällt ihr der Schwiegersohn ins Wort und blickt dabei grimmig wie die hölzernen Krieger, die auf der Straße nach Siekierki an die ruhmreichen Schlachten des ersten Polenkönigs Miecko erinnern. »Hauptsache kein Viertes Reich.« Grazyna beendet den Streit und stellt das Essen auf den Tisch: knusprige Eierkuchen mit süßer Quarkfüllung und Schinkenbrote für die Gäste.

Man wird aufgenommen in den Kreis »guter Deutscher« und weiß nicht, wie man sich bedanken soll. Ein Scheinchen zustecken? Grazynas Blick löst den Krampf. Nicht jeder Pole handelt mit geschnitzten Zigarettenspitzen. Irina Grabowski