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Der Traum vom freien Kurdistan löst sich auf

■ Während Saddams Truppen im Norden Iraks eine Offensive starten, haben die Kurden das Vertrauen in ihre politischen Organisationen verloren. Ein Bericht aus Irakisch-Kurdistan.

Der Traum vom freien Kurdistan löst sich auf Während Saddams Truppen im Norden Iraks eine Offensive starten, haben die Kurden das Vertrauen in ihre politischen Organisationen verloren. Ein Bericht aus Irakisch-Kurdistan.

Als die US-Truppen am 21. April die türkisch-irakische Grenze überschritten, glich Zakho einer Gespensterstadt. Heute gehört das nur 12 km von der Grenze entfernte Städtchen zu einem der lebendigsten Plätze in Irakisch-Kurdistan. Die Straßen sind voller Menschen. Männer mit Maschinenpistolen gehören zum Straßenbild: Seit Monaten schon wird die Stadt von den kurdischen Peschmergas kontrolliert. Auf dem Basar gibt es vor lauter Menschen kaum ein Durchkommen — Zigaretten, Waffen und Devisen bestimmen das Geschäft. Eine Kalaschnikoff gibt es für 2.500 Dinar, die Lizenzproduktionen sind schon um ein Mehrfaches billiger zu haben. Eine Panzerfaust kostet um die 500 Dinar, rund 50 US-Dollar. Kleine Jungs verkaufen in den Gassen Kugeln, „zwei Dinar das Stück“.

Angebot und Nachfrage bestimmen die Preise: Die Preise für Waffen und Munition sind im Sturzflug, während die Preise für Mehl und Zucker in die Höhe schnellen. Um der desolaten Ökonomie in Irakisch- Kurdistan den Rest zu geben, reichte das Wirtschaftsembargo Saddam Husseins völlig aus. Kein Öl und kein Benzin — das bedeutet den langsamen Todesstoß im Winter. Man lebt von der Hand in den Mund, von den Hilfslieferungen der internationalen Organisationen, vom Verkauf von Waffen, von illegalen Grenzgeschäften. Wertvolle Baumaschinen, als internationale Hilfe zum Wiederaufbau Kurdistans geliefert, werden zu Tiefstpreisen in den Iran geschmuggelt und verkauft.

Überall hängen die Plakate der kurdischen Organisationen, die sich zur „Kurdistan-Front“ zusammengeschlossen haben. Ein freies, demokratisches Kurdistan wird prophezeit. Doch die Heroen von einst, des Krieges satt, versuchen längst im Alltag ihre eigene Haut zu retten. Nicht wenige Peschmergas, die mit ihren Waffen doch Kurdistan gegen Saddam verteidigen sollten, sind zu Händlern geworden. Und da ist das Einsatzgebiet um Zakho an der türkischen Grenze besonders attraktiv.

Rund 50.000 Einwohner zählt die Stadt Simel, zwischen Zakho und Dahok gelegen. Bereits 1988 flüchteten kurdische Familien vor Saddam Hussein in die Türkei. Im Frühjahr erfolgte schließlich der Massenexodus, der für Tausende irakische Kurden den Tod bedeutete. Heute sind die Einwohner Simels zurückgekehrt. Doch die Heimat bietet keine Zukunft. „Es gibt keine Arbeit, es gibt nichts zu essen“, räumt der verantwortliche Vertreter der „Demokratischen Partei Kurdistans“ in Simel, Nasreddin Jemil, ein. Diebstahl und Raub sind heute in der Stadt gang und gäbe. „Diejenigen, die kleine Gärten haben, können zumindest etwas anbauen. Die anderen haben buchstäblich nichts. Seit dem Embargo Saddams können sich viele noch nicht einmal Reis kaufen“, sagt Jemil. Kühlschränke und Fernseher gibt es billig zu haben. Die Familien verkaufen Hausrat, um etwas zu essen zu haben. Die Abhängigkeit der kurdischen Wirtschaft von Saddam Hussein und den ausländischen Staaten ist komplett. „Wir können noch nicht einmal Zucker produzieren. Die einzige Zuckerfabrik Kurdistans war in Suleimaniya, und die haben die Amerikaner bombardiert“, klagt Said in einem der Teehäuser Simels.

Vor den Fotografen begeben sich die Peschmergas in Simel gerne in Pose. Doch ihre Zähne sind längst gezogen. Nicht durch den Krieg, sondern durch den wirtschaftlichen Bankrott, sechs Monate nach dem Rückzug der irakischen Truppen. Nasreddin Jemil kann stundenlang auf den „Mörder Saddam“ schimpfen. Doch was ist der Unterschied zum Frühjahr, als Saddam Millionen mit der Drohung chemischer Waffen verjagte. Auf die Frage, wie Kurdistan sich vor neuen Erpressungen des Diktators schützen soll, weiß er wie die anderen Peschmergas auch keine Antwort: „Heute sind eben alle friedliebenden Menschen auf der Welt für die Kurden. Weltweite Friedensliebe als Ersatz für eine politische Garantie für Kurdistan.“

Die Spuren des Krieges sind allgegenwärtig. Noch rund 600.000 Menschen konnten nicht in ihre Häuser zurück. Entweder weil sie zerstört sind oder weil ihre Heimat noch immer von irakischen Soldaten besetzt ist. In Dahok ist das Viertel Baruschke völlig zerstört. Als Saddams Truppen in die Stadt eindrangen, machten sie zuerst einmal sechzig Häuser mit Dynamit dem Erdboden gleich. Um das zerstörte Areal sind heute Zelte aufgebaut. Mehrere Männer graben nach Blech und nach Eisen. Mehrere Kühlschränke, die mit den Bomben unter die Erde versanken, haben sie bereits zutage gefördert. Kinder spielen mit ihren eigenartigen Resten.

Das Dorf Banok, rund 30 Kilometer östlich von Zakho gelegen, zählte einst mehrere Dutzend Häuser. Es ist gerade einen Monat her, daß türkische Flugzeuge das Dorf bombardierten. Zwei Erwachsene und zwei Kinder fanden den Tod unter den Napalmbomben. Zwischen den abgebrannten Häusern finden sich noch die Reste der abgeworfenen Bomben. Angeblich galten die türkischen Bomben Lagern der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), die für ein unabhängiges Kurdistan in der Türkei kämpft und auch Lager im Nordirak unterhält. Hane Zeyni Ömer ist eine alte Frau mit zerzausten weißen Haaren. Sie zeigt die Verbrennungen an ihren Armen und Händen. „Ich war auf dem Feld, als die Flugzeuge kamen. Die Erde und die Häuser brannten.“ Der Lebensweg der alten Frau ist untrennbar verknüpft mit dem Leidensweg des kurdischen Volkes. Nach 1975 wurde sie aus ihrer Heimat vertrieben. Banok wurde ihre zweite Heimat. Nach der Niederschlagung des kurdischen Aufstandes im Anschluß an den Golfkrieg floh sie vor den C-Waffen Saddams in die Berge, nach Türkisch-Kurdistan. Schließlich wieder Rückkehr nach Banok. Einen Monat ist es her, daß die napalmspuckenden türkischen Flugzeuge kamen. Hane Zeyni schreit ins Mikrofon: „Auf der einen Seite drangsalieren uns die Türken, auf der anderen Seite Saddam. Sollen sie uns endlich einen Staat geben. Ich schwöre, ich gehe dorthin.“ Die alte Frau hat das Dorf aus Angst vor neuen Bombenangriffen verlassen. Nur wegen der Tomaten auf dem Feld kommt sie zuweilen zurück ins Dorf.

Die Kommandozentralen der kurdischen Organisationen für die Provinz Behdinan liegen im einstigen Tourismuszentrum Zavita in den Bergen. In einem Luxushotel des irakischen Tourismusministeriums hat sich die „Patriotische Union Kurdistans“ einquartiert. Arif Rushdie klärt uns über den Vertrag auf, den die „Kurdistan-Front“ mit Saddam vergangene Woche abschloß, um das Wirtschaftsembargo zu beenden. Die Peschmergas werden sich aus den Städten zurückziehen, die irakischen Behörden werden in die kurdischen Städte zurückkehren. Auch irakische Polizei wird es künftig geben. Doch eine beschränkte Anzahl von Peschmergas in Spezialuniformen soll ebenfalls für die Sicherheit der Städte zuständig sein. „Es ist kein Schritt rückwärts. Wir mußten diesen Schritt tun. Der Winter steht bevor“, sagt Rushdie.

Der Traum vom freien Kurdistan stirbt dahin. Von Tag zu Tag stabilisiert sich das verhaßte Regime Saddam Hussein. Man ist des Krieges leid. Viele haben das Vertrauen in ihre politischen Organisationen verloren. Zukunft gibt es nicht, es gibt nur das Heute. Nach Krieg und Vertreibung finden dieser Tage unzählige Hochzeiten statt. Begleitet von dem Dröhnen der Lautsprecher, tanzen Frauen in ihren bunten Kleidern auf einer Straße in Zakho. Ein kleines Mädchen kehrt von der Hochzeit heim. Sie hat eine Melodie aufgeschnappt: „Biji Kurdistan — es lebe Kurdistan“. Ömer Erzeren, Zakho

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