ZWISCHEN DEN ZEILEN

■ Rock im 'Merkur': Heisse Nachrichten für die in Taubheit ergrauten

Rockmusik spaltet die akademische Welt, in die, die sie ignorieren (so gut es geht), und die, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Ein Aufsatz im Katalog zur Ausstellung „Schwerelos“ (in Berlin) trägt die Überschrift: „Join the joyride — Roxette“. Ein Rätsel für die früher rundum und jetzt unbestreitbar Halbgebildeten: Roxette ist ein Rockduo aus Schweden, kommerziell, substanzlos, aber — wie man sieht — zitierbar.

Auch der 'Merkur‘, die monatliche Lektüre für Professoren der Geisteswissenschaften und solche, die es noch werden wollen, hat jetzt die Rockmusik entdeckt. Peter Kemper, Leiter des Abendstudios im Hessischen Rundfunk, erklärt für die in Taubblindheit Ergrauten, warum es von Adorno nicht sehr einfühlsam war, die Beatles für „etwas Zurückgebliebenes“ zu halten. Dann erinnert sich Kemper „an die schon fast enthemmende Wirkung eines Beatles-Songs wie She loves you, der damals, 1963, einem musikalischen Überfall glich und mit seinen stakkierten ,Yeah, Yeah, Yeah‘-Schreien einen diffusen Überschuß an Empfindungen ausdrückte“. Kemper war, als die Platte neu war, 13, wie die biographischen Angaben am Ende des Heftes verraten.

Der nächste Aufsatz im gleichen Sonderheft des Merkur zum Thema „Kultur?“ stammt von Jürgen Oberschelp, Jahrgang 1956, und beschäftigt sich mit den Talking Heads, The Jesus and Mary Chain und Laibach, Bands der achtziger Jahre.

Oberschelp versucht, die Musik der Talking Heads und ihre Texte (die, vollständig zitiert, wie Gedichte behandelt werden) mit allerlei Theorie-Versatzstücken kompatibel zu machen. Man merkt die Übung in der Theorie und einen Mangel an Praxis in deren Anwendung auf das Phänomen — eben nicht (wie bei Kemper) der Rockmusik — sondern der Talking Heads.

Es ist erstaunlich: für den Autor erfüllt die Band Talking Heads genau das, was Susan Sontag vor dreißig Jahren als „Camp“ beschrieben hat; eine durchtriebene, verspielte Kunstform, die leidenschaftlich das Künstliche feiert und das Triviale zum Gegenstand macht. Die Schwulen lieben das. Ob dieses von Sontag zum ersten Mal erfolgreich beschriebene hybride Genre auf die Talking Heads anzuwenden ist, muß spätestens bezweifelt werden, wenn Oberschelp Sontag zitiert: „Nie, niemals findet sich Tragisches im Camp.“ Denn hinter der beißenden Ironie der Band, die Oberschelp sehr wohl erkennt, lauert vielleicht doch ein Abgrund, der mit Abgründigkeit allein nicht beschrieben ist.

Was so viele Aufsätze in ihrer Glaubwürdigkeit beschränkt — und das trifft auch auf diesen zu — ist ihre teleologische Sicht auf die Geschichte; und sei es die Geschichte des Ästhetischen. Natürlich interessiert einen Künstler wie David Byrne nicht der authentische Ausdruck — wie Janis Joplin oder Joe Cocker. Aber es ist unmöglich vorauszusagen, wie von Leuten, die jetzt dreizehn oder gar ungeboren sind, die Poetik der Talking Heads verstanden werden wird. Ein Satz wie „Well, I've seen sex and I think it's alright“ könnte zur Quintessenz einer individuellen oder kollektiven Erfahrung werden; und wer garantiert, daß diese nicht gerade in der Stimme David Byrnes als tragische erkannt wird.

Endlich wird jenseits von 'Spex‘ (der Zeitschrift merkt man durchaus an, wie einsam sie ihren Diskurs pflegt) ernsthaft über Rockmusik gesprochen. Rockmusik ist eine seltsame Fusion von Erfahrungen und Projektionen, Initiation und Verschleiß. Es ist eine vollkommen etablierte, aber auf der Ebene der Beschreibung fast unbekannte Gattung von etwas ähnlichem wie Kunst.

Peter Kemper: „Der Rock ist ein Gebrauchswert“. Warum Adorno die Beatles verschmähte. Jürgen Oberschelp: Das Ende der Welt. Vom Verschwinden der Kunst in der Popmusik. Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 510/511. Klett- Cotta Verlag, Stuttgart, 20 DM.

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