Ins Innere des Aufrufers

■ Insel Musik in Berlin, 18ter Jahrgang

Freunde Neuer Musik tragen es sich gar nicht mehr ins Notizbuch ein, denn die Insel Musik findet verläßlich, wie jedes Jahr, im November statt. Durch eine glückliche Mischung von überregionalem Programm und heimischer Komponistenszene, plus gelegentlicher Ausflüge in andere Disziplinen, erreicht diese kleine Konzertreihe, was den protzigen Festivals der Stadt nicht gelingen will: zu vermitteln, kulturell zu sein — nicht repräsentativ.

Eröffnet wurde der Reigen von dem Cellisten Michael Bach, der sich für die Erweiterung seines Instruments durch den Gebrauch eines Rundbogens einsetzt. Daß auch mit herkömmlichem Werkzeug Spieltechniken möglich sind, die erst einmal bewältigt werden wollen, zeigt zum Beispiel Nicolaus A. Hubers Stück Der Ausrufer steigt ins Innere (1984). Es bedient sich verschiedenster Mittel, um den Vorgang des Redens in der Öffentlichkeit darzustellen. Zunächst proklamiert der Cellist den Notentext in langen Atemzügen, mit rhythmisch artikulierten Bogenwechseln, bevor er in einen skandierenden Tonfall gerät und mit metrischer Einförmigkeit und pochendem Staccato die Sätze in die Öffentlichkeit nagelt. Wenn der Ausrufer dann in sein Inneres steigt, ist des Cellisten Kunst gefordert. Sei es, daß der Klang einer Saite in mehrere Stimmen zu spleißen ist oder durch Schaben des zweihändig geführten Bogens fragile Klänge hervorzubringen sind — solches gelingt nur mit einem Höchstmaß an Kontrolle und Einfühlungsvermögen.

Die Sonate für Cello solo (1960) und die Vier kurzen Studien (1970) von Bernd Alois Zimmermann verlangen über diese Tugenden hinaus noch die Fähigkeit, innerhalb von Sekundenbruchteilen in eine komplett andere Spieltechnik zu wechseln, ein Resultat von Zimmermanns „quasi-improvisierendem Komponieren“. Die ständig modifizierte und kraß konstrastierende Gestik angemessen darzustellen, entspricht in etwa der Aufgabe, mit einer laufenden Kettensäge, einem schreienden Kleinkind und einer brennenden Fackel zu jonglieren. Michael Bach kann das. Er brachte die störrischsten Dinge zum Klingen und verlieh ihnen jene spielerische Leichtigkeit, die sie zu ihrer Entfaltung benötigen.

Die Pianistin Marianne Schröder hatte sich ein Programm leiser Töne zusammengestellt. Die Stücke kamen mit dem Charme sentimentaler Süßigkeiten aus der impressionistischen Konditorei daher, was zu ertragen wäre, wenn nicht deren erhebliche Ausdehnung fatal auf den Magen schlagen würde. So zum Beispiel Beat Furrers Viocelessness (1986), welches vollmundige Konsonanzen mit zartbitteren Dissonanzen veredelt. Die Pianistin spielte mit der Samtpfote und entließ jeden Ton mattglänzend poliert in die nach Schönheit hungrigen Ohren des Auditoriums. Immerhin war ein Variationsprinzip erkennbar, das einen strukturellen Zusammenhang erkennbar und das Stück genießbar machte.

Die Amerikanerin Barbara Monk-Feldman verzichtet in The I and Thou (1988) völlig auf strukturelle Arbeit zugunsten eines unartikulierten Gebildes, das beständig um sich selbst kreist — die ewige Wiederkehr des Gleichen in a-Moll. Ein größer nicht denkbarer Kontrast folgte in Form der Sonate Nr.6 der Russin Galina Ustwolskaja. „Meine Musik ist in keinem Fall Kammermusik, auch dann nicht, wenn es sich um eine Solosonate handelt!“ Und in der Tat werden die Töne derart aus dem Klavier herausgedroschen, daß sie das Instrument zu sprengen drohen. Den schreienden Ausdruck ihrer Musik erreicht Ustwolskaja, indem sie zwei oder gar nur einen Ton mit solcher Gewalt anschlagen läßt, daß die Materie, die schrillenden Saiten und die geplagten Hämmer, aufstöhnt. Im Vergleich zeigte sich, über welch reichhaltige pianistische Palette Marianne Schröder verfügt, wenn die Stücke es erfordern.

Ein Konzert mit Berliner Komponisten wurde durch Alakata (1987) von Jakob Ullmann eröffnet. Der Titel ist dem Gedicht einer griechischen Lyrikerin des dritten vorchristlichen Jahrhunderts entnommen, von dem nur Fragmente erhalten sind. Fragmentarisch ist auch die Textur der Komposition. Die acht Instrumente setzen aus kurzen Bruchstücken ein Puzzle zusammen, dem im Laufe der Jahrtausende diverse Teile verloren gegangen sein müssen — Pausen, die sich in den Text gefressen haben. Die Gratwanderung zwischen Tönen und Geräusch sowie zwischen leisen und nahezu unhörbaren Klängen verstärkt noch den Eindruck des weit Entfernten, das im Licht der Gegenwart erfahrbar wird. Fragmentierend war allerdings auch die Interpretation, acht Spieler sind eben noch lange kein Ensemble. Mangels Homogenität geriet das fein gezeichnete Stück, das auf subtile Übergänge und Abstufungen angewiesen ist, zum Holzschnitt.

Marginalien (1991) sind die fünf kurzen Stücke für Streichquartett von Hanspeter Kyburz überschrieben. Sie bilden schon allein durch ihre Kürze und Prägnanz einen wohltuenden Kontrast zu dem aufgeblasenen Unmaß vieler anderer „Werke“ (Komponisten bilden eine allzu fleißige Zunft). Oft dauert die Präparation der Instrumente mit Büro- und Aktenklammern länger als das Stück selber, aber der Aufwand lohnt sich. So werden in dem Satz Aircondition verschiedene Trompe-l'oreille-Effekte erreicht, die zudem eine selten zu beobachtende Ironie durchscheinen lassen. In die zarte Geräuschsphäre einer stillgelegenen Wohnung mit dem Säuseln einer Klimaanlage und dem gelegentlichen Brummen eines Kühlschranks flicht sich, als zentrales Ereignis, das ferne Tönen eines Martinshorns samt Dopplereffekt. Das ist nicht nur pittoresk, sondern auch klanglich ergiebig. Frank Hilberg