Belgiens AnarchistInnen wollen den Staat retten

Ein Provokationskünstler, ein Alt-Hippie und eine Aktivistin aus dem Marollen-Viertel kandidieren bei den belgischen Parlamentswahlen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Neue Frauen hat das Land, dachte sich Brüssels Provokationskünstler Jan Bucquoy, also müssen die alten ausgestellt werden. Ob „Hausfrau“, „Hure“ oder „Femme fatale“, sie alle seien Frauentypen, die von Männern geschaffen wurden, inzwischen aber dank „women's lib“ im Aussterben begriffen sind.

Um die männlichen Kreationen zu konservieren, ergänzte das Enfant terrible der belgischen Kunstszene im September sein Unterhosenmuseum mit einem „Museum der Frauen“. Bekannte des Künstlers sitzen dort jeden Sonntag — teils nackt, teils bekleidet — auf Stühlen und lassen sich vom zahlreich erscheinenden Publikum bewundern.

Als „Kotfliege“ beschimpften ihn daraufhin die sonst mehr auf ihre Ausdrücke bedachten Stadtväter. Feministische Gruppen verliehen ihm gar den Titel „Pornokrat“. Der Skandal war perfekt, der Zeitpunkt geschickt gewählt: Schließlich fingen die belgischen Parteien gerade an, sich für den Wahlkampf warm zu laufen, an dem auch Bucquoys Vereinigung teilnahm — die „allgegenwärtige, soziale und unabhängige Zusammenkunft für die Gleichheit der Massen“, kurz ROSSEM genannt.

Parteichef und erster Kandidat ist der frühere Millionär, Ferrari-Sammler und AntiMonarchist Jean-Pierre Van Rossem. In seinem bunkerähnlichen Hauptquartier in Antwerpen erläuterte er wenige Tage vor den Wahlen — und seiner Verhaftung wegen Wahlbetrugs und illegalen Finanzaktionen — das „anarchistische“ Programm seiner Partei: „weniger Politik, mehr Demokratie; weniger Steuern, mehr Sicherheit“, forderte der wuchtige Alt-Hippie mit dem Spitznamen „Guru der Brüsseler Börse“. Dem Bild entsprechen sein ergrauter Bart und die langen, blondgrauen Strähnen, die ihm ins bebrillte Gesicht fallen.

Während er sich wie auf einem der Wahlkampfposter am Kopf kratzt, weist Van Rossem Freunde und Wahlhelfer in seine gänzlich unanarchistische Lehre ein: Die meditative Erleuchtung beim Spiel mit den Millionen müsse nun zurückstehen. Schließlich gehe es jetzt um die Rettung des belgischen Staates. Daß dieser sich im Zustand der Auflösung befände, sei der Monarchie, der Ehe und dem verfilzten Polizei- und Justizapparat geschuldet.

Erstere solle deswegen abgeschafft, letztere durch direkte Wahlen kontrollierbar werden. Außerdem möchte Van Rossem das Sozialsystem privatisieren, weil die Sozialausgaben den belgischen Staat in den Ruin trieben.

Auf der ROSSEM-Liste kandidierte auch „Femme fatale“-Darstellerin und Sängerin Ingeborg De Blende. Mit Freunden organisierte „La Marollina“ im letzten Jahr Straßentheater, Hungerstreiks und monatelange Straßenbesetzungen, um Brüssels Kreuzberg vor Spekulanten und Neubaukommandos zu retten.

Die freie Kommune La Marolle, ehemals vor den Stadttoren Brüssels gelegen, ist für sie Heimat, die anarchistische Seele Belgiens. Das zweisprachige Refugium für Lumpensammler und Lumpenproletariat, für Maghrebiner und Künstler haben jedoch seit einiger Zeit auch die Yuppies vom benachbarten Schickimicki-Treff „La Sablon“ entdeckt. Seitdem macht sich die Hauptstadt Europas selbst in den Gassen am Galgenberg zu Füßen des Justizpalastes breit, einem Gebäude mesopotamischer Ausmaße, das in La Marolle schlicht als „Korruptionspalast“ bekannt ist.

Doch nicht nur dort lassen die Brüsseler Stadtväter zur Zeit bauen, was die Maschinen halten. Weil Büroräume um ein vielfaches lukrativer sind als Wohnungen und kleine Geschäfte, werden wahllos Jugendstilhäuser, Parks und ganze Häuserzeilen plattgewalzt und mit Bürotürmen bepflanzt.

Dieser Selbstzerstörungsprozeß ist einmalig in der Geschichte Brüssels, das vom Zweiten Weltkrieg vollkommen verschont geblieben war. Nährboden für diese Art von Stadtpolitik ist der belgische Korruptionssumpf, in dem Politiker und Geschäftsleute ihre vielfältigen Süppchen kochen. Kontrolle gibt es aus Tradition nur in Ausnahmefällen. Wohl weil im Lauf der belgischen Geschichte eine Besatzungsmacht der anderen die Klinke in die Hand drückte, hat sich ein kleinbürgerlicher Anarchismus besonderer Qualität entwickelt.