Auch in Osijek stehen Serben und Kroaten Seite an Seite

■ Nach dem Grauen von Vukovar und unmittelbar vor dem drohenden Großangriff der Bundestruppen wirkt die Stadt Osijek geradezu gespenstisch

Osijek lebt mit dem Krieg, als gäbe es ihn nicht: Die Läden haben geöffnet, es mangelt nicht an Waren. In den Kneipen herrscht reges Leben, der Alkohol fließt. Die Kinder gehen zur Schule, die Alten zum Kirchgang. Keine fünfzig Kilometer von hier liegt Vukovar, die Trümmerwüste, die „Heldenstadt“, wie sie in Kroatien genannt wird. Was nach dem Fall Vukovars auf Osijek, der Hauptstadt der Region Ostslawonien, zukommen wird, weiß niemand. Einen Vorgeschmack vom Krieg hat man schon bekommen: Dutzende Male erlebte Osijek Fliegeralarm, in den Vororten sind noch die Spuren der Kämpfe zu sehen: ausgebrannte Autos, zerschossene Hausfassaden, verlassene und geplünderte Wohnungen, herrenlos herumstreunende Haustiere. Aber verglichen mit dem Grauen von Vukovar ist das kaum der Rede wert. Denn je mehr sich die Kämpfe nach Süden verlegten, um so ruhiger wurde es in den letzten Wochen um Osijek. Manche verbreiteten gar Zweckoptimismus: „Solange Vukovar nicht fällt, kann uns nichts passieren.“ Und man fügte hinzu, die Welt werde es nicht zulassen, daß sich Belgrad ein Stück kroatischen Bodens einfach mit Waffengewalt unter den Nagel reiße.

Und heute? Im Podrum, einer einfachen Stehkneipe, dröhnt laute Volksmusik. Die Lieder handeln von Liebe und von Schicksal, auch in Gesprächen kommt das Wort „sudbina“ ständig vor. Der schnauzbärtige Wirt, der eine Mischung aus serbisch und kroatisch spricht, versucht zu erklären: „Wer jetzt noch in der Stadt ist, der hat sich mit seinem Schicksal abgefunden.“ Der werde hierbleiben, weil er sich weder in Zagreb noch in Belgrad zu Hause fühle. Viele seien gegangen — die einen nach Serbien, die anderen nach Kroatien. Sie hätten sich entschieden, auf welcher Seite sie fortan stehen wollten. Aber er als Slawonier, er wolle bleiben.

Die letzten Slawonier wollen sich nicht einordnen lassen. In Osijek, der regionalen Hauptstadt, fragen heute die zurückgebliebenen Einwohner nicht mehr, ob einer Kroate oder Serbe ist. „Warum auch?“, so eine Marktfrau im alten barocken Stadtzentrum, die Herbstastern an den Kunden zu bringen versucht, „ich habe doch nie einen Unterschied zwischen mir und meinen serbischen Nachbarn gemacht.“ Ihr Sohn lebe in Belgrad, dorthin sei er zum Studieren gegangen, ihre Tochter habe in Zagreb eingeheiratet. Das sei doch ganz normal.

Wären da nicht überall Sandsäcke vor den Wohnhäusern, die spanischen Reiter auf den Straßen, ausgehobene Schießstände und die Gräben, man könnte dem Frieden trauen. Denn niemand verrät, welche Zukunft er sieht. Die Serben, die in der Stadt verblieben sind, sie stehen auf der Seite der slawonischen Kroaten, die kleineren Volksgruppen der Ungarn und Tschechen ebenso. Da gibt es keine Zweifel: Sie werden gemeinsam in den Verteidigungskampf gegen die serbischen Freischärler und die übermächtige Bundesarmee ziehen. Wer aber das Kommando führen wird und mit welchen Waffenpotentialen, darüber herrscht Stillschweigen. Die einen sagen, der kroatische Präsident Tudjman sei ein Verräter, da er die Verteidiger von Vukovar im Stich ließ und sich sogar mit einer Gebietsabtrennung Ostslawoniens abfinden würde. Als könnte damit zwischen Kroatien und Serbien ein dauerhafter Frieden verkündet werden. Andere haben Verständnis für die Politik der Zagreber Regierung. Sie nehmen es Tudjman ab, daß er alles zur Verteidigung Vukovars getan habe, man sich aber nicht länger gegen die militärische Übermacht der Bundesarmee habe wehren können. Nach diesen Stimmen sind die Verluste des Feindes jedoch so beachtlich gewesen, daß Belgrad das weit größere und strategisch besser geschützte Osijek nicht mehr zu erobern trachte. Zweckoptimismus allerorten?

Je länger man in Osijek verweilt, um so gespenstischer wirkt die Stadt. Im einzigen großen Hotel vor Ort sind keine Zimmer zu haben. Das Hotelhochhaus sei mehrmals bombardiert, ausländische Journalisten verletzt worden, so die offizielle Begründung. Für Ausländer sei die Stadt aus Sicherheitsgründen eigentlich gesperrt. Mit anderen Worten, man will keine unabhängigen Beobachter in Osijek haben. Im Bürgermeisteramt gibt man uns zu verstehen, es herrsche Zensur, da sich schon zu viele Spione als Journalisten verkleidet nach Ostslawonien eingeschleust hätten. Auch wir hätten ohne Genehmigung Passanten ausgehorcht. Ein Beamter im Kampfanzug verrät, ohne daß er gefragt wird: „Wir sind hier mit Serbien im Krieg, und wir alle sind Soldaten. Ganz Osijek ist eine Division. Und sie wird den Feind besiegen.“

Osijek, die zweite kroatische „Heldenstadt“, mit Tausenden Zivilisten als Geiseln? Ein zweites „kroatisches Stalingrad“? Nach dem Fall von Vukovar ist die Stadt ganz offenkundig das nächste große Ziel der Angreifer: Am Samstag ging, wie Augenzeugen berichteten, ein wahrer Regen von Geschossen auf die Innenstadt nieder. Das seit zwei Monaten immer wieder unter Feuer liegende Osijek ist nun fast eingeschlossen, am Samstag wurde es mit Granatwerfern und Raketenwerfern beschossen, auch Dörfer in der Umgebung wurden angegriffen. Das kroatische Fernsehen zeigte am Samstag abend, wie Frauen und Kinder in aller Eile aus Osijek flohen. Einem Bericht des ungarischen Rundfunks zufolge seien an einem Grenzübergang allein am Samstag über 2.000 Einwohner Osijeks nach Ungarn geflüchtet. Roland Hofwiler, Osijek