Zigaretten abtöten

Noréns Familienhölle im Wiener Akademietheater  ■ Von Dieter Bandhauer

Obwohl Lars Norén in den achtziger Jahren beinahe jedes Jahr ein neues Stück schrieb, kamen in Wien nur seine beiden 1984 entstanden Dramen Dämonen und Nachtwache zur Aufführung — und dies auch bald nach Veröffentlichung der Texte. Nacht, Mutter des Tages hingegen entstand bereits 1982 und wird jetzt all seinen späteren Veröffentlichungen vorgezogen. Überraschend, weil Burg- und Akademietheater zeitgenössische Stücke sonst nur als Erstaufführungen herausbringen — und nach Lektüre des Textes völlig unverständlich.

Ließ Norén in Dämonen und Nachtwache zwei Paare aufeinanderstoßen, bediente er sich in Nacht, Mutter des Tages der Keimzelle allen Terrors: der Familie — in diesem Fall in der aus O'Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht bekannten Zusammensetzung: Ehepaar mit zwei Söhnen. Und damit auch alles dramatisch ordentlich durcheinandergebracht und aufgewühlt werden kann, bekommt nicht nur jedes Familienmitglied sein Spezialproblem zugewiesen — der Vater die heimliche Trunksucht, die Mutter den Husten, Georg die sich gegen seinen Vater richtende Härte, und der halbwüchsige und -starke David eine latente Homosexualität —, sondern wird der Haussegen gleich zu Beginn prinzipiell schief gehängt: Das von der Familie geführte Hotel ist verschuldet. So können die Konflikte aus einem fruchtbaren Unterbau sprießen.

Lars Norén weiß, daß die Konflikte dramatisch zugespitzt werden müssen, um sie auf 18 Stunden Handlungszeit reduzieren zu können; eine Zeit, die es wiederum auf drei Stunden Aufführungszeit zu konzentrieren gilt. Der Familienterror, der in diesem Komprimierungsprozeß entsteht, ist ein theaterspezifischer, der dem des Lebens entgegengesetzt ist. Denn hier besteht der Terror gerade darin, daß er keine dramatische Beschleunigung erfährt. So haben alle diese Stücke, in denen Männer Zigaretten an den Wangen ihrer Frauen abtöten, Söhne ihren Müttern unter den Rock schauen oder den Vätern in die Hoden treten, latent eine Frohbotschaft zu verkünden: Und sie, die Familie, bewegt sich doch!

Guy Joosten war sich dieses Dilemmas offensichtlich bewußt, aber auch der Tatsache, daß es bei einer solchen Vorlage keine Lösung gibt, sondern lediglich den Trick, das Ganze nochmals zu theatralisieren. Mehrmals, wenn der pathetische Realismus der Familienhölle kulminiert, wird die weiße Bühnenküche in rotes und blaues Licht getaucht, und die Familie zu 50er-Jahre-Schlagern in einer Choreographie miteinander versöhnt. Selbst wenn in einer solchen Sequenz Sohn David der Mutter die Gurgel durchschneidet, glaubt man, die heile Welt eines Werbespots zu sehen.

Die Notwendigkeit, Nacht, Mutter des Tages mit Tricks inszenieren zu müssen, führt zu einer Uneinheitlichkeit, die sich — weniger günstig — auch auf den Zugang der Schauspieler zu ihren Rollen auswirkt. Erika Pluhar agiert mit so viel Distanz zu ihrer Mutterrolle, als müsse sie ihre erst kürzlich geäußerte Ansicht, daß Theater nicht alles sei, mit allen Mitteln unter Beweis stellen. Peter Wolfsberger als Georg bemüht sich in dieser Hinsicht ganz um familiäre Ähnlickeit. Joachim Bißmeier als Ehemann und Vater hingegen versucht, mit schusseligem Getänzel die Studie eines heimlichen Trinkers zu liefern, die stellenweise wie eine Parodie auf Harald Juhnke anmutet. So erspielt er sich wenigstens die Lächerlichkeit, die ihm seine Söhne nachsagen. Und Ulrich Reinthaller als David kommt die ihn aufreibende Rolle zu, den Schauspieler in der Familie geben zu müssen. Wenn er, um den Vater abzulenken, den liebend weinenden Sohn markiert, läßt er David in jenes schwarze Loch stürzen, das sich vor jeder Schauspielerei auftun kann: nämlich auf sich selbst hineinzufallen.