Den Akzent ausspielen

Das zweite Festival der „Europäischen Theater Konvention“ in Bologna  ■ Von Margit Knapp Cazzola

Unter den Arkaden von Bologna lachte ein afrikanischer Arlecchino von den Plakaten, eine Senegalese im italienischen Harlekinsgewand. Eins war damit sofort klar: Nicht um den üblichen Theater-Import ging es diesem Festival, sondern um konkrete Zusammenarbeit verschiedener Kulturen.

Zehn Tage lang war Bologna „Die Bühne Europas“ — so der Titel des zweiten Festivals der Europäischen Theater Konvention (11. bis 19.November). Geladen hatte das Bologneser Teatro Testoni — 17 Gruppen aus zwölf Ländern, nicht nur europäischen, zum Thema „Immigration und Theater“. Der Festivalleiter und künstlerische Direktor des Gastgeber-Theaters Paolo Cacchioli hat das Programm für diese europäische Bühne im weiteren Sinne entworfen. Es beinhaltete Theorie und Praxis, Debatten und Aufführungen, bei denen alle Teilnehmer sich ihrer eigenen Sprache bedienten. Die „Bühne“ wurde bestimmt durch die Wirklichkeit: In erstaunlich schneller Reaktion auf Probleme und Ereignisse im Umfeld der neuen Immigration in Europa, stellte das Festival vor allem Theater vor, die in multikultureller Zusammenarbeit Verständigungswege erarbeiten.

Willst du kaufen?

In Bologna wurde das brisante Problem aufgegriffen und in ein Kulturereignis umgesetzt, wie man es sich in der Hauptstadt Berlin nur wünschen könnte, wo die eifrig einberufenen kulturpolitischen Veranstaltungen zu dem Thema sich alsbald in Ideenarmut und Ratlosigkeit auflösten.

Nun gibt es ja in Europa einige Theater, die sich als transkulturelle Institutionen verstehen, wo vorhandene Strukturen für die Präsentation fremder Gruppen genutzt werden, wo RegisseurInnen und SchauspielerInnen aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, das Lyric Theatre Hammersmith etwa, das in Bologna die englisch-indische „Tara Arts Group“ präsentierte, oder das Theater an der Ruhr, das die Produktion Bluthochzeit des Roma-Theaters Pralipe — in Romanes, der aus dem Sanskrit stammenden Sprache der Roma — nach Bologna sandte. Das Teatro delle Albe aus Ravenna zeigte in zwei Stücken Ergebnisse aus der Zusammenarbeit von senegalesischen und italienischen SchauspielerInnen.

Der Regisseur Marco Martinelli hat Nordafrikaner, die als „vu compra“ („wilst du kaufen“ im neapolitanischen Dialekt), wie man die fliegenden Händler in Italien nennt, gekommen waren, für sein Theater gewonnen. Sie arbeiten nun seit Jahren zusammen und verbinden die Tradition der Commedia dell'Arte mit der afrikanischen des „Griot“, des durch die Lande ziehenden Märchenerzählers.

Wenn auch die großen Namen fehlten, wie Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, die schon seit Jahren mit multikulturellen Ensembles arbeiten, das Festival war sehenswert.

Kein Geld für Brecht?

Oedipus the King heißt die Sophokles-Bearbeitung, die die „Tara Arts Group“ zeigte: Ödipus als Paradebeispiel für die Erfahrung von Fremdheit, für den Mythos des Immigranten. Die fünf in London lebenden InderInnen stellten sich in der Sophokles-Bearbeitung die Identitätsfrage aus dem eigenen Erfahrungshorizont heraus, weder Inder noch Engländer zu sein. Sie entwickelten ein humorbetontes Theater, mit viel Expressivität in der Mimik und Körpersprache — in Kontrast zu den statischen Passagen, wo sie mit Masken arbeiteten. Dadurch entstanden zwei Spielebenen: die der Vorgabe und die der Aktualisierung, Sophokles bei den Griechen und sie in London.

Die gewagte Mischung funktuinierte fast durchweg. „Wir leben in London, aber wir sind keine Engländer, als Inder fühlen wir uns auch nicht, wer sind wir?“ — Dies nannte der Regisseur Jatinder Verma als Ausgangspunkt für ihr Theater.

Um Kopropduktionen, wo im Entstehungsprozeß ein kultureller Austausch stattfindet, will sich die Europäische Theater Konvention verstärkt bemühen. Beim reinen Gastspiel soll es auf keinen Fall bleiben. Hier propagiert eine Institution ein Konzept, das nicht das übliche Tournee-Kolonialverhalten vieler europäischer Theater unterstützt.

Zum zweiten Mal hat die Konvention nun seit ihrer Gründung 1989 in Luxemburg ein Theaterfestival veranstaltet — das erste fand in Saint- Etienne in Frankreich statt (die Comedie de Saint-Etienne ist eines der zwölf Mitgliedstheater), das nächste Mal will man sich in Deutschland treffen, in welcher Stadt, steht noch nicht fest.

Mindestens drei Theater müssen an einem Projekt beteiligt sein, damit es von der Konvention mit finanziellen Mitteln aus Brüssel, von der Europäischen Kommission, gefördert wird.

Von deutscher Seite war ursprünglich das Berliner „Schiller- Theater“ Mitglied der Konvention, nach der Maueröffnung wurde es vom „Berliner Ensemble“ abgelöst. „Wir entschieden uns für das ,Berliner Ensemble‘, weil wir darin vor allem den symbolischen Charakter für die Ost-West-Öffnung sahen“, meinen Daniel Benoin, Präsident der Europäischen Theater Konvention, und der Vize-Präsident Paolo Cacchioli.

Schalls Vierter Brechtabend heißt das Spekakel, das Ekkehard Schall vorführte. Dessen nicht genug, verkündete der Mime noch der italienischen Presse, daß man in Deutschland nun für Bert Brecht kein Geld mehr ausgeben wolle. Den Italienern traten die Tränen in die Augen.

Werktreue gefragt — oder nicht?

Aller Blick richtet sich nun auf 1993. Zu dem Thema „Theater im neuen Europa — Immigration und Theater“ fand in Zusammenarbeit mit der Universität Bologna während des Festivals auch eine Tagung statt. Hier berief man sich vorrangig auf das Konzept von der „Immigration im Kopf“. Der Leiter der indischen „Tara Arts Group“, Jatinder Verma, hat es in den Raum geworfen und von Publikum und Vortragenden wurde es gerne aufgeschnappt. Alle, die sich mit Theater befassen, fühlten sich plötzlich als Immigranten und bejahten die These von der „täglichen Immigration des Regisseurs in eine andere Welt“ als Voraussetzung für lebendiges Theater.

Wie weit sich ein Regisseur in die italienische Welt einfühlen müsse, um Pirandello zu inszenieren, gehört ja zu jenen ewigen Theaterfragen, an denen sich der Streit über die hohen Dinge — wie: Treue oder nicht — entzündet. Wie leicht man sich den Blick von innen, den bekannten, wohlig heimischen, aneignet, den werkgetreue Inszenierungen erfordern, wie wünschenswert dieser Blick überhaupt ist, was er ausgrenzt, wie glatt und bruchlos die „Immigration im Kopf“ funktioniert, wäre noch einmal mitßtrauisch zu befragen.

Die interessantesten Überlegungen zum Thema Immigration stellte der in Paris lebende rumänische Dozent und Theaterkritiker Georges Banu zur Diskussion. Die Konflikt- Situationen mit der Sprache, mit dem Akzent, die die SchauspielerInnen auf die Bühne bringen, definierte er als wichtigste Momente in einer Zeit der verstärkten Suche nach (Bühnen- )Identität. Wer ist es, der spricht? Woher kommt er? — Sobald diese Fragen Bedeutung erlangen, lassen sich Publikumssympathien durch Akzente gewinnen oder verderben. SchauspielerInnen können die Herkunft ihres Akzents auspeilen, um so mehr, wenn er auf Geschichte verweist, wie es etwa der deutsche, der Akzent der Besetzer, in den vierziger Jahren in Paris tut.

Unberücksichtigt blieb bei seinen Ausführungen der kokette Aspekt der Sprache, die Macht des Akzents, zu verlocken, zu verführen.

Ein Theater-'Lettre‘

Da es die Theaterwissenschaft als eigenständige Studienrichtung in Italien lange nicht gab, kamen die italienischen Vortragenden aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und hatten nur das eine gemeinsam: Sie redeten vom Theater aus ihrer (fernen) Sicht und begannen alle immer wieder am Punkt Null. So betonte der Anthropologe Pier Giorgio Giacche, daß man ab nun nicht mehr vom Theater, sondern von Theatern im Plural sprechen müsse. Das Fehlen einer europäischen Theaterzeitschrift beklagte Guido Davico Bonino, Professor für Geschichte des Theaters in Turin. Zeitschriften wie 'Dramma‘ oder 'Sipario‘, die in den siebziger Jahen über das ganze Theatergeschehen in Europa informierten, gibt es heute nicht mehr. Vielleicht wäre ihm mit einem 'Theatre- Lettre International‘ geholfen? Es ist übrigens seit kurzem der Direktor des Festivals von Spoleto, das seit 1946 existiert und daher — nicht mehr ganz aktuell — „dei due mondi“ (von zwei Welten) heißt.

Enzo Gentile, Leiter vom A.G.I.S., der dem deutschen Bühnenverein verwandten italienischen Institution, verlangte mehr Offenheit für neue Strukturen: Die meisten Theater in Italien funktionieren nach wie vor auf Tournee-Basis, die wenigsten haben ein festes Ensemble. Außerdem schrieb er dem Theater eine große Verantwortung zu: Aus dem Europa des Aufeinandertreffens ein Europa des Zusammentreffens zu gestalten. Auch Roberto Ciulli vom Theater an der Ruhr stimmte in den Aufruf ein, in bezug auf kulturellen Austausch offensivere Strategien zu entwickeln.

Die ökonomisch starken Länder werden im zukünftigen Europa auch kulturell stark sein, um so wichtiger wird es, schwachen Sprachen Chancen zu geben. Das Theater ist der Ort, wo viele Sprachen bewahrt werden, der Ort, wo Kultur am direktesten in die Gesellschaft gebracht wird. Keine Angst vor dem Turmbau zu Babel.