Theissen-Urteil angezweifelt

Revisionsverhandlung gegen den Memminger Frauenarzt Horst Theissen vor dem Bundesgerichtshof/ Bundesanwälte beantragen Aufhebung des Urteils in einigen Punkten zugunsten von Theissen  ■ Aus Karlsruhe Heide Platen

Der Handschlag, mit dem Bundesanwalt Horst Peter seine Prozeßgegner gestern morgen im Saal des Bundesgerichtshofes (BGH) in Karlsruhe begrüßte, hatte beinahe Symbolcharakter. Zur Disposition der Bundesrichter stand das Urteil gegen den Memminger Frauenarzt Horst Theissen, gegen das beide Parteien Revision eingelegt hatten. Theissen war im Mai 1989 wegen Verstoßes gegen die Abtreibungsparagraphen 218 und 219 vom Memminger Landgericht zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und drei Jahren Berufsverbot verurteilt worden.

Zum Mittag stand fest, daß auch die Bundesanwaltschaft in einigen Punkten mit der Härte der bayerischen Justiz in dem als „Hexenprozeß“ bekanntgewordenen Verfahren nicht einverstanden war. Sie forderte die Einstellung des Verfahrens in 19 Fällen, weil diese ohnehin schon verjährt gewesen seien. Außerdem seien die Memminger Richter manchmal über ihr Ziel hinausgeschossen.

Mit dem höchstrichterlichen Urteil, erklärte der Vorsitzende der ersten Strafkammer des Bundesgerichtshofs, Gribbohm, könne „wegen der umfangreichen Materie“ erst am Dienstag kommender Woche gerechnet werden. Theissen war vorgeworfen worden, in insgesamt 79 Fällen illegal Abtreibungen vorgenommen zu haben oder aber der gesetzlichen Beratungspflicht für die Notlagenindikation nicht nachgekommen zu sein.

Die gestrige BGH-Verhandlung entwickelte sich zeitweise zu einem rechtsphilosophischen Disput. Das Gericht hörte die Argumente und ließ wenig darüber erkennen, in welche Richtung es entscheiden wird. Daß das Urteil zumindest teilweise aufgehoben wird, hatte auch die Bundesanwaltschaft beantragt. Sie bemängelte nicht nur die Fälle, in denen die Verjährungsfrist nicht berücksichtigt worden war, sondern konzentrierte sich auch auf sieben Einzelfälle. Es hätte, meinte sie, zum Beispiel von Theissen nicht verlangt werden können, bei einer 45jährigen Frau vor der Abtreibung eine Fruchtwasseranalyse durchzuführen. In einigen anderen Fällen sei es ebenfalls nicht notwendig gewesen, die soziale Indikation der durchweg kinderreichen und berufstätigen Mütter einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Insgesamt, so Bundesanwalt Bieger, habe auch der Urteilstenor nicht gestimmt, der auf die abschreckende Wirkung für andere Ärzte gesetzt habe.

Strittig blieb die unterschiedliche Rechtsauffassung zum Paragraphen 218. Er sei, erklärte Bundesanwalt Peter kategorisch, ein Verbotsparagraph, der Abtreibungen nur in wenigen allein durch den Arzt zu bewertenden und zu entscheidenden, Ausnahmen zulasse. Verteidiger Jürgen Fischer hielt entgegen, es könne nicht angehen, daß ein Arzt sich über die subjektive Einschätzung seiner Patientin hinwegsetze. „Wie weit“, fragte er, „muß diese Prüfungspflicht denn gehen?“ Hier schloß sich die Bundesanwaltschaft der Rechtsauffassung an, daß der Arzt zumindest andere Ärzte oder Untersuchungsergebnisse heranziehen müsse, um dann „objektiv“ zu befinden. Fischer vertrat dagegen die Ansicht, daß jeder Arzt nur prüfen könne, ob eine Frau ihre subjektive Notlage ernsthaft erwogen habe: „Eine respektable Gewissensprüfung.“

Auch in einem anderen Punkt bestand Uneinigkeit. Rechtsanwalt Kempf kritisierte scharf, daß die Patientinnenkartei des Arztes beschlagnahmt und zu Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche Frauen benutzt worden war. 136 ehemalige Patientinnen waren zu Geldstrafen bis zu 3.200 Mark verurteilt worden. Dies habe gegen die „informationelle Selbstbestimmung“ verstoßen und greife das Grundvertrauen zur ärztlichen Schweigepflicht an: „Patienten können nichts dafür, wenn sich der Arzt strafbar macht.“ Wenn beschlagnahmte Beweismittel nicht ausgewertet werden könnten, gebe es, so dagegen die Bundesanwaltschaft, „keine Gerechtigkeit“, und die Strafvorschriften seien „völlig geltungslos und bedeutungslos“.

Am Ende dieses Verhandlungstages vertrat die Bundesanwaltschaft die Meinung, daß die gegen Theissen verhängte Strafe in einem neuen Verfahren gemindert werden müsse. Die Verteidigung regte an, den Prozeß dann nicht ausgerechnet nach Memmingen zurückzuverweisen. Dort waren fast alle zuständigen Richter in das sogenannte „Befangenheitskarussell“ geraten, als sie sich immer wieder gegenseitig für unbefangen erklärten. Der Vorsitzende Richter Ott hatte zurücktreten müssen, als sich herausstellte, daß er selbst eine Freundin zur Abtreibung gedrängt hatte. ProzeßbeobachterInnen rechnen damit, daß eine neue Verhandlung in München oder Augsburg stattfinden wird.