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BERLIN IM NOVEMBER Von Philippe André

Für manche ist es schlicht „die Hölle“ und fügt sich argumentativ nahtlos in die gesamtdeutsche Dauerrecherche nach den skandalösen Nachteilen und groben Unfähigkeiten Berlins als Capitale. Die anderen hingegen erwarten durchaus sehnsüchtig jenen erhabenen Monat November, in dem die Hauptstadt der Deutschen gelegentlich ihr wahres Gesicht offenbart. Dann nämlich, wenn keine Lichtstrahlen mehr den Dunstschirm aus Schmutz, Kälte und diesiger Feuchtigkeit durchdringen, wenn das Zwielicht des herannahenden Winters bereits fröstelnd in den Häuserschluchten kauert, wird die Stadt zum Mekka der Melancholiker, Schwermütigen und Verzweifelten. Denn in dieser traurigen Vielfalt des farblosen Einerleis, in dieser Mischung aus saisonbedingter Witterung und passend einfallsloser Architektur — drapiert vom Lärm und Gestank eines obskuren „Aufschwung Ost“ — ist die Chance, auf Gleichgesinnte zu treffen, als sehr günstig zu bezeichnen. Es herrscht grau. In all seinen Nuancen. Sogar der Bürgermeister erinnert mehr an den Vorsitzenden des örtlichen Totengräberverbandes, wenn er im TV trotzig versichert: „Alles in Butter hier!“ Noch fruchtbarer kann der Boden für all die Unglücklichen mit dem bitteren Lebensgrundsatz, es sei „doch eh' eins wie's andere“ gar nicht mehr sein. Die Selbstmordrate der Stadt schnellt im November nicht zufällig traditionell hoch, die Gesichter der Menschen werden aus gutem Grunde nachdenklicher, ernster. Wer irgend kann, verläßt den düsteren Ort, der im ewigen Dämmer dieser Jahreszeit auf viele Gemüter so stabilisierend wirkt wie der frische Luftzug einer zuschlagenden Tür auf ein 54er- Kartenhäuschen. Wer bleibt, sollte sich vorsehen, denn nicht jeder verfügt über die robuste Psyche eines unbefangenen Kirchenspitzels. Doch schutzlos ist keiner: außerhäusliche Kontakte können auf das absolut Notwendige reduziert werden, der sinistren Außenwelt läßt sich mit schweren Vorhängen überdies der Zutritt ins Private durchaus verweigern. Außerdem empfiehlt es sich, lustigen Begebenheiten erhöhtes Augenmerk zu widmen. Da wirkt das Neueste vom Berliner Senat oft schon wie Gemütskonditionierer und -festiger in einem. Bleibt als Unsicherheitsfaktor: überraschender Besuch!

Jedenfalls war ich auf Frank nicht vorbereitet. Und der labile Kerl ließ, kaum hatte ich ihm Kaffee eingeschenkt, psychomäßig ungeniert die Sau raus. Seine alte Wunde namens Katharina war anläßlich eines einsamen Bummels Unter den Linden (!) wieder aufgebrochen. Daher eiterte er endlos vor sich hin und wollte gar nicht mehr aufhören mit der elenden Seelensabberei. Grauenhaft! Es zog mich runter, machte mich noch nach seinem Abgang zeitweise völlig handlungsunfähig. Stundenlang saß ich da, grübelte und versank in komplizierteste Gedankenwelten.

Doch führten sie alle letztendlich zu den beiden wirklich wichtigen Fragen der menschlichen Existenz: Welchen verdammten Sinn hat diese ganze Scheiße hier eigentlich? Und: Kann man aus dem Wahnsinnstrip vielleicht noch aussteigen?

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