Brasiliens Straßenkinder wehren sich

■ 3.000 demonstrierten in Rio de Janeiro gegen die Ermordungen durch Todesschwadronen

Rio de Janeiro (taz) — „Das Leben hat Vorfahrt.“ Mit diesem Slogan sperrten am Donnerstag rund 3.000 DemonstrantInnen für zwei Stunden die Hauptgeschäftsstraße von Rio de Janeiro, Avenida Rio Branco, um gegen die Jagd auf Straßenkinder zu demonstrieren.

Symbolisch für das Leid aller Straßenkinder fesselten die Teilnehmer den Jungen Everaldo Caetano an ein rotes Kreuz und trugen ihn auf Händen durch die Stadt. Der Zug, der von der Stadtverwaltung, dem UNO-Kinderhilfswerk UNICEF sowie Vertretern der katholischen Kirche organisiert wurde, wurde von Kindern im Rollstuhl angeführt. Straßenkinder, schwangere Frauen sowie Eltern ermordeter Kinder hatten sich zu Gruppen innerhalb des Umzugs zusammengeschlossen.

Die PassantInnen waren von der Demonstration beeindruckt. Als die Kinder sich auf Anordnung des Jugendrichters Siro Darlan auf den Asphalt legten, um in einer Schweigeminute den bisherigen Opfern der Armut und Gewalt zu gedenken, knieten viele PassantenInnen spontan ebenfalls zum Gebet nieder. Bei der abschließenden Kundgebung kamen nicht nur die zahlreichen Künstler, Musiker und Väter, deren Kinder von Todesschwadronen ermordet wurden, zu Wort.

Jüngstes Beispiel der Welle der Gewalt, bei der in den vergangenen drei Jahren rund 500 Jugendliche ums Leben kamen, ist die Ermordung von fünf Straßenkindern zwischen neun und 17 Jahren aus dem Slum „Neu Jerusalem“ im Vorort Duque de Caxias in der vergangenen Woche. Die Kinder waren vor ihrer Erschießung gefesselt worden, nur ein Mädchen überlebte, weil es sich totstellte. Der 20jährige Täter ist bereits festgenommen worden.

„Es mußte so kommen, Edso hat sich seit drei Monaten nicht mehr zuhause blicken lassen. Ich konnte ihn nicht halten“, trauert Maria Lucia Marques, 32 Jahre, um ihren 17 Jahre alten Sohn Edson Cunha da Silva. Nur durch Spenden aus der Nachbarschaft konnte sie das Geld für die Beerdigung aufbringen.

Im Großraum Rio sind in diesem Jahr bereits 350 Kinder erschossen worden. Gesundheitsminister Alceni Guerra glaubt, daß sich an diesem Zustand erst etwas ändern wird, wenn sich die in Brasilien vorherrschende extreme Einkommenskonzentration verringern wird und das Schulsystem verbessert wird. „Bis zu einer Lösung des Problems werden wir noch viele solche psychopathischen Anfälle mit ansehen müssen,“ erklärte der Minister anläßlich der Ermordung der Kinder in „Neu Jerusalem“.

Konkrete Verlautbarungen werden von dem Abschlußbericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (CPI) zu dem Thema erwartet, die am 5.Dezember ihren Abschlußbericht vorlegen wird. Astrid Prange