Hoffnung auf eine besseres Leben in Seouls Bekleidungsmekka

Auf dem „Friedensmarkt“ der südkoreanischen Hauptstadt kämpfen Textilarbeiterinnen um kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen  ■ Aus Seoul Peter Lessmann

In den engen Gassen türmen sich die Abfälle des Tages — es ist kurz vor acht Uhr abends. Müllmänner ziehen Handkarren, schwer bepackt mit Plastiksäcken, hinter sich her. Gerüche von Fäulnis steigen in die laue Herbstluft. Durch unbeleuchtete Sträßchen, fast menschenleere und dunkle Hinterhöfe, führt uns die Gewerkschafterin Lee Sung Sook zu einem vierstöckigen Fabrikgebäude.

Hunderte von kleinen Bekleidungsläden ringsum haben längst ihre schweren Eisengitter heruntergelassen. Nur auf einem Stand hocken noch drei Männer über einem Brettspiel. Wir sind auf dem „Friedensmarkt“ in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Hier werden nicht nur Hemden oder Jacken, Anzüge oder Kleider verkauft, hier wird auch produziert, rattern Nähmaschinen von morgens bis abends oder, wenn die Auftragslage günstig ist, bis spät in die Nacht.

20.000 Frauen nähen rund um die Uhr

„Rund 1.500 Bekleidungsfirmen mit zehn bis 20 Mitarbeiterinnen dürfte es im größeren Umkreis des Friedensmarktes noch geben“, sagt Lee. Fast drei Viertel der dort Beschäftigten, gut 20.000 sollen es noch sein, sind junge Frauen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben sind viele vom Land in die Großstadt gekommen. Doch das oft gepriesene Wirtschaftswunder im aufstrebenden Schwellenland Südkorea scheint an ihnen spurlos vorbeigegangen zu sein.

Das Fabrikgebäude, dessen graue Tünche längst von Wind und Wetter verwaschen ist, gehört zu den besseren Produktionsstätten auf dem Friedensmarkt. Es hat immerhin kleine Fenster, und in seinen Kellerräumen wird nicht gearbeitet. Über eine schmuddelige Betontreppe, vorbei an einem Pförtner, gelangen wir in den dritten Stock des Gebäudes. Auf dieser Etage wird in drei verschiedenen Firmen unter Neonlicht noch gearbeitet.

Durch ein kleines Gitterfenster, kaum größer als 100 Zentimeter im Quadrat, blicke ich verstohlen in einen der Produktionsräume. Mehrere Frauen, zum Teil hinter Bergen von unfertigen Textilien und Geweben versteckt, hocken gebeugt über ihren Nähmaschinen; direkt gegenüber der Arbeitsraum einer anderen Bekleidungsfirma. Zwölf Frauen und Männer schneidern und nähen hier tagein, tagaus zwischen Textilballen und Kartons auf höchstens 40 Quadratmetern. „Die Besitzer sehen es natürlich nicht gerne, wenn Fremde sich hier umsehen, und das gilt besonders für Journalisten“, sagt Lee verschmitzt.

Katastophale Arbeitsbedingungen

Doch sie hat alles perfekt abgepaßt. Es ist kurz vor Feierabend und die Firmenchefs haben sich schon längst verdrückt. „Um acht Uhr ist bei uns endlich Schluß“, sagt eine junge Arbeiterin hinter einer Nähmaschine übermüdet und lächelt beim Anblick der ungewöhnlichen Besucher. Den Näherinnen gegenüber stehen zwei junge Männer, die auf vorfabrizierten Pappbögen Stoffe markieren und zuschneiden.

Im Vergleich zu vielen ihrer ArbeitskollegInnen haben es die Beschäftigten in dieser Fabrik noch relativ gut. „Die Arbeitsbedingungen in einigen Firmen sind einfach katastrophal“, sagt die 29jährige Lee, die schon mit 14 Jahren als Näherin in einer kleinen Bekleidungsfirma zu arbeiten begann — für damals 30 D-Mark im Monat. Seit 13 Jahren ist sie nun schon in der Chongye-Textilgewerkschaft organisiert und kämpft für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten.

Von menschenunwürdigen Arbeitsplätzen kann auch Chung In Sook von der Katholischen Arbeiterkonferenz (KCLAC) ein Lied singen. Die Generalsekretärin in der KCLAC arbeitete Anfang der siebziger Jahre selbst als Näherin und war in der Textilgewerkschaft aktiv. Schon bald kam sie auf die schwarze Liste und fand keine Anstellung mehr. Gearbeitet werde auch heute noch in dunklen Kellerräumen ohne Tageslicht, sagt sie. Einige Fabrikanten ließen wegen der Enge der Räume eine zweite Decke einziehen. Aber dort können die Frauen nicht einmal aufrecht gehen.

Die größten Probleme bereiten den jungen Arbeiterinnen die riesigen Wohnungsnöte und lange Arbeitszeiten. Zehn Stunden am Tag, von Montag bis Samstag sitzen sie an ihren Maschinen. Sechzig Stunden, manchmal sogar mehr, kommen so pro Woche zusammen. „Der Samstagnachmittag gehört der Familie!“ heißt es auf einem großen Plakat im Büro der Chongye-Gewerkschaft. Die Frauen fordern den Achtstundentag und verlangen, wie es das Gesetz vorschreibt, daß die Wochenarbeitszeit von 44 Stunden eingehalten wird. Diese Vorschrift, gültig für alle Betriebe mit mehr als fünf MitarbeiterInnen, wird aber immer wieder durchbrochen, und das erst recht bei vielen kleinen Unternehmen.

Weil sich die meisten Arbeiterinnen keine eigene Wohnung leisten können, teilen sie gemeinsam mit Kolleginnen Räume, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Sie befinden sich nicht selten in Kellergeschossen der Fabrik und sind kleiner als zehn Quadratmeter. Teilen müssen sie die Unterkünfte manchmal sogar mit Männern. Die Sicherheitsvorkehrungen in diesen „Wohn- und Schlafstuben“ sind oft miserabel. So brach vor einigen Jahren in einer kleinen Textilfabrik ein Feuer aus, mehrere Frauen verbrannten in ihren notdürftigen Unterkünften, weil es keine Notausgänge gab.

Steigende Mieten fressen die Löhne auf

Von ihrem Lohn, der heute im Durchschnitt bei umgerechnet 800 D-Mark monatlich liegt, geht schon die Hälfte für Wohnkosten drauf, sagt Chung von der KCLAC. Die Organisation, von der kirchlichen Hierarchie gemieden, berät bei Fragen des Aufbaus von Gewerkschaften und schult FunktionärInnen über Arbeitsgesetze und Fragen der Arbeitssicherheit. Von den Lohnzuwächsen der TextilarbeiterInnen bleibt meistens nichts mehr übrig, denn sie werden allein schon durch steigende Mietpreise weggefressen. Und die Lebenshaltung hat sich in den vergangenen Jahren enorm verteuert.

Einige Frauen haben Glück und finden eine Unterkunft bei ihren Verwandten in der Hauptstadt, andere leben in Slumvierteln am Rande Seouls. Chung beklagt auch den schlechten Gesundheitszustand der Arbeiterinnen. In der Regel bleibe ihnen nämlich kaum Zeit zum Kochen. Sie ernähren sich also hauptsächlich mit Instantnudeln und anderen Fertiggerichten. Und das fördere ihre angeschlagene Gesundheit nicht gerade, meint Chung.

Auch die Hitze des Sommers sowie die Kälte des Winters machen den Männern und Frauen auf dem Friedensmarkt zu schaffen, weil die Ventilation in den Arbeitsräumen schlecht ist und die Heizkörper unzureichend sind. „Wir kämpfen natürlich in unserer Gewerkschaft für eine Änderung dieser Situation“, sagt Lee. Aber das sei nicht einfach, weil viele Fabrikbesitzer selber finanziell am Krückstock gehen und sich teure Investitionen nicht leisten können.

Tatsächlich sind so manche Textilfirmen inzwischen vom Friedensmarkt verschwunden und pleite gegangen. Bis Mitte der achtziger Jahre waren in dieser Gegend einmal über 30.000 Menschen beschäftigt. Das Geschäft mit südkoreanischen Billigtextilien auf dem Weltmarkt florierte: 40 Prozent der in Seoul hergestellten Produkte gingen in den Export. Doch das hat sich mit der neuen Billigkonkurrenz aus Indien, Indonesien oder China längst geändert. Koreanische Niedrigpreisprodukte lassen sich immer schlechter im Ausland absetzen. Und so wird auf dem Friedensmarkt auch nur noch für die heimischen Märkte genäht — und das sind immerhin noch über 40 Prozent der gesamten Bekleidungsproduktion.

All dies hat kaum dazu beigetragen, die Arbeits- und Lebenssituation der ArbeiterInnen im Seouler „Bekleidungsmekka“ zu verbessern. Während Textilverbände und Politiker bereits vom neuen internationalen Modezentrum Seoul schwafeln, müssen die TextilarbeiterInnen mit jeder D-Mark rechnen und um ihren Arbeitsplatz fürchten. Viele kämen heute nicht einmal auf den staatlich garantierten Minimallohn (450 D-Mark), wenn man die langen Arbeitszeiten berücksichtige, sagt Gewerkschafterin Lee.

Frauen wie Lee und Chung sind nur ein Beispiel für das zunehmende Engagement von Arbeiterinnen im Kampf um eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in Südkoreas Textilbranche. Das gilt auch für den Aufbau der Gewerkschaft. Lange Zeit wurde die Chongye-Gewerkschaft, wie keine andere mit Schweiß und Tränen erkämpft, politisch unterdrückt.

Erst 1988 wurde sie im Zuge der Demokratisierung und einer weiten Streikbewegung als Vertretung von 170.000 TextilarbeiterInnen in Firmen mit weniger als 200 Beschäftigten in ganz Südkorea anerkannt. Doch nur etwa ein Prozent der ArbeiterInnen sind auch organisiert. Schuld daran hätten vor allem Regierung und Presse, die auch heute noch Stimmung gegen sie machten und Beschäftigte vom Eintritt abschreckten, glaubt Lee.

Textilgewerkschaft in Vorreiterrolle

Die Chongye-Gewerkschaft hat für die Arbeiterbewegung Südkoreas eine ganz besondere Bedeutung: Ihre Entstehung ist nämlich mit dem Tod eines jungen Textilarbeiters verbunden, der zu Beginn der achtziger Jahre ein Fanal setzte. Aus Protest gegen die Repression von ArbeiterInnen hatte sich Chun Tae Il brennend von einer Brücke auf dem Friedensmarkt in den Tod gestürzt. Dieses Datum markierte den Beginn einer neuen Bewegung unter ArbeiterInnen, DissidentInnen und KünstlerInnen in Südkorea. Die schlecht bezahlten ArbeiterInnen forderten ihren Anteil am Wohlstand ein, da die Löhne im krassen Mißverhältnis zu den endlosen Arbeitszeiten standen. Im Sommer 1987 erschütterten wochenlange Straßenschlachten Südkoreas Hauptstadt, als die ArbeiterInnen aller Industriezweige für höhere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen in wilde Streiks traten.

Aber auch heute hat es die Textilgewerkschaft auf dem Friedensmarkt keineswegs leicht. Ihr Präsident Kim Myung Tae wurde Anfang diesen Jahres zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er enge Beziehungen zum verbotenen demokratischen Gewerkschaftsverband „Chonnohyop“ unterhielt. „Wie kann die Regierung nur behaupten, es gäbe keine politischen Gefangenen in Südkorea“, entfährt es Youn Soom Nyo, Präsidentin der Katholischen Arbeiterkonferenz. Viele GewerkschafterInnen wurden festgenommen und auch Mitglieder der KCLAC seien in Haft, sagt sie zornig.

Mut und Hoffnung auf ein besseres Leben

Nur unweit vom Friedensmarkt betreten wir die Wohnung von fünf jungen Arbeiterinnen. Die Frauen, alle Anfang 20, sind um neun Uhr abends zu Hause, wenn sie keine Überstunden leisten müssen. Mit zwei Zimmern und Küche ist die Wohnung für koreanische Verhältnisse schon geräumig. Ohne Unterstützung hätten sich die Arbeiterinnen die Wohnung nicht leisten können. Finanziert wird sie von „terres des hommes“, im Rahmen eines Projektes, das den Frauen helfen soll, mehr Selbständigkeit zu gewinnen. Ein Jahr lang können sie hier wohnen, erklärt Chung In Sook. Danach sollten sie in der Lage sein, mit ihrem Ersparten eine eigene Wohnung zu finanzieren. Ob sie das bei den hohen Preisen schaffen, wissen sie jedoch nicht.

Wir sitzen auf dem Boden um einen runden Tisch und die Frauen stellen sich vor. Sie erzählen offen von der Arbeit und ihrem schweren Leben. Ja, neidisch seien sie manchmal schon auf die Studentinnen, denen dies alles erspart geblieben ist. Doch das Zusammenleben der fünf scheint ihnen etwas viel Wichtigeres gegeben zu haben: Sie haben wieder Mut und Hoffnung geschöpft in einem sonst eher trostlosen Arbeitsalltag.