Kampf gegen die Angst vor der ungewissen Zukunft

■ Einst waren sie die Elite der Arbeiterklasse, die Streikenden von Hennigsdorf: Sie wissen, daß der Verfall lange vor der Wende begonnen hatte

Vor dem Werkstor brennt das „ewige Feuer“. Die Arbeiter haben einen aus Eisenstreben zusammengeschweißten alten Papierkorb zweckentfremdet und schichten darin kokelnde Holzteile gegen die Kälte des Nebeltages. Das Hennigsdorfer Stahlwerk im Norden Berlins, ein paar Kilometer hinter der Stadtgrenze, an der früher alles zu Ende war, ist nun seit mehr als einer Woche besetzt. Die Beschäftigten protestieren mit dieser Aktion gegen vieles: gegen das Verschachern ihrer Arbeitsplätze an den Riva-Konzern, obwohl ein deutsches Konsortium inzwischen bessere Konditionen für die Belegschaft bietet. Gegen die Hoffnungslosigkeit, die sie erwartet, wenn sie arbeitslos werden. Und sie protestieren gegen Kohl und gegen die Treuhand, aber vor allem gegen ihre Ohnmacht und ihre Angst vor der ungewissen Zukunft.

Noch glauben sie, ein Faustfand in den Händen zu haben. Peter Schulz, Betriebsratsvorsitzender des Hennigsdorfer Stahlwerks, meint, solange das Kündigungsschutzabkommen mit der Geschäftsführung in Kraft sei, sei der Betrieb letztlich „unverkäuflich“. Denn die Überführung von rund 4.000 der derzeit noch 5.000 Beschäftigten in eine Beschäftigungsgesellschaft sei für beide konkurrierende Kaufinteressenten die Voraussetzung für die Übernahme des Werks. Im übrigen aber will die Belegschaft ihre Besetzungsaktion solange durchhalten, bis die für sie günstigere Option durchgesetzt ist. Aber wäre damit viel gewonnen?

Am Tor steht der 39jährige Hans Hermann Nörenberg Streikposten. Er ist laut Werksausweis „2. Bereitsteller“, derzeit auf ABM gesetzt. Er räumt mit anderen ehemaligen Stahlwerkern zusammen auf dem Werksgelände auf. Als Realist erwartet er über kurz oder lang die Arbeitslosigkeit. Aber noch kämpft er, steht mit seinen Kollegen am Tor, streng nach Schichtplan. „20 Jahre habe ich hier im Werk gearbeitet“, berichtet er. „Bereitsteller“ heißt, er war Transportarbeiter, der in all den Jahren mit einem Kleinlastwagen Werkzeug und Material innerhalb des riesigen Werksgeländes umherfuhr. Er kennt hier jeden Winkel, jede Halle wie seine Westentasche. Und seine Kollegen: „Ich war doch hier bekannt wie ein bunter Hund“, sagt er. „Aber viele sind ja schon weg.“ Auch deshalb kämpft er heute. Denn mit dem Stahlwerk in Hennigsdorf geht seine Welt unter. Seine Welt — das sind zuallererst die ehemals 9.000 Kollegen, von denen inzwischen nur noch 5.000 übrig geblieben sind.

Das ist das riesige Werksgelände, das mit 1,7 Millionen Quadratmetern nicht viel kleiner ist als die gesamte 50.000-Einwohner-Stadt Hennigsdorf. Und das ist diese Kleinstadt, die jahrzehntelang vor der Mauer lag und vom ehemaligen DDR-Regime in den letzten Jahrzehnten zu einem der drei wichtigen Stahlstandorte ausgebaut worden ist.

Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig. Die Fabrik ist größtenteils stillgelegt. Die meisten der riesigen Hallen, in denen bis vor zwei Jahren der Stahl geschmolzen, zu Brammen verarbeitet und gewalzt wurde, sind nur noch rostende Schrotthaufen. Wie riesige Unterweltmonster stehen die verschrotteten Schmelzöfen, Kühlanlagen, Kranführungen schwarz und bizarr in den verstaubten Hallen, in denen sich nichts mehr rührt außer ein paar Tauben. Die Gleise, auf denen schon Nörenbergs Vater als Lokführer gefahren ist, sind verrostet. „Hier konnte man früher nicht einfach so durchlaufen“, meint er, als wir quer über die Gleisanlagen zur einzigen Halle gehen, die noch in Betrieb ist: der Elektro- Stahlschmelze. Aber seit Freitag letzter Woche, als die Arbeiter ihr Werk besetzten, wird auch sie nur noch mit Notprogramm gefahren. Das in den siebziger Jahren mit westlicher Technologie errichtete Elektrostahlwerk ist das Filetstück, um das es bei all den Querelen zwischen dem Riva-Konzern und dem deutschen Konsortium geht.

„Das ist kein Schwänzen, das ist ein Praktikum“

„Wir haben hier doch alles gehabt“, berichtet Nörenberg. „Dort drüben war unsere Bücherei.“ Jetzt sind die Fenster des Flachbaus kurz hinter dem Haupttor blind. Die Sozialeinrichtungen des Stahlwerks, die Klubräume, Kindergärten, die werkseigene Klinik sind schon lange abgewickelt. „Da drüben war die Stasi.“ Der Streikposten zeigt auf ein stattliches hellgestrichenes Gebäude schräg gegenüber dem Jugendclub. „Ja, die hatten in jeder Abteilung einen drin“, erzählt er. „Am besten waren die siebziger Jahre. Danach wurde es immer schlechter.“ Es gab praktisch keine Ersatzteile mehr. Reparaturen wurden nicht mehr ausgeführt. Der Verfall des Werks hat längst vor den Produktionseinstellungen nach Wende und Währungsunion begonnen.

Die Arbeiter von Hennigsdorf haben all diese Zeichen des Verfalls aufmerksam registriert. Sie wußten schon lange, daß es so nicht mehr ewig weitergehen konnte. Sie haben sich nicht für die Wende engagiert, aber große Hoffnungen in sie gesetzt. Aber so wie jetzt mit ihnen verfahren wird, wie jetzt um „ihr“ Werk geschachert wird, „haben wir uns das nicht vorgestellt“. Nörenbergs persönliche Wendebilanz ist nüchtern und negativ: „Früher habe ich 1.200 Mark verdient. Das war zu DDR-Zeiten eine Menge Geld.“ Und was bekommt er heute vom Arbeitsamt? „900 D-Mark. Und die Miete ist jetzt auf über 300 gestiegen, obwohl die noch nichts an der Wohnung gemacht haben.“

Das Hennigsdorfer Stahlwerk war reich, die Elite der Arbeiterklasse wurde hier vom System hofiert. „Rund um die Uhr haben wir gearbeitet. Ohne jede Pause. Auch Weihnachten. Und am Heiligabend haben wir vom Werk Weihnachtstüten mit Südfrüchten gekriegt.“ Irgendwie war es auch eine heile Welt, eine Idylle aus Betriebsgemeinschaft und Datschenglück, eine Welt, in der Nörenberg und viele seiner Kollegen jahrzehntelang gelebt haben, in der sie verwurzelt waren. Das alles zerbricht jetzt, ganz gleich, ob nun die Italiener oder das deutsche Konsortium den Zuschlag erhalten. Auch deswegen steht er mit seinen Kollegen am Tor und wärmt sich über dem Feuer die Hände.

Und sie kämpfen nicht allein. Schon an der Ortseinfahrt aus Richtung Berlin macht ein großes Transparent auf die Besetzung aufmerksam. Und bei den morgendlichen öffentlichen Betriebsversammlungen vor dem Kulturhaus finden sich nicht nur die Stahlwerker, sondern auch ihre Frauen und Kinder ein. „Letztlich haben wir nur ein Druckmittel“, erklärt der Betriebsratsvorsitzende Peter Schulz, „das ist die Öffentlichkeit.“ Und deshalb dankt er ausdrücklich einigen Schülerinnen und Schülern der Hennigsdorfer Albert- Schweizer-Schule, die — während der Schulzeit — den Protest ihrer Eltern für die Schülerzeitung dokumentieren. „Das ist kein Schwänzen, das ist ein Praktikum.“ Martin Kempe, Hennigsdorf