Stasi/Streit/Kultur

■ Eine Würdigung der Prenzlauer-Berg-Poesie

Wenn alle über Stasi streiten, wollen wir nicht fehlen. In einem Kommentar der gestrigen Ausgabe (Seite 21) hieß es: »In einer SFB- Kolumne dürfen sich jahrelang verfolgte Schriftsteller anhören, sie wollten sich mit dem Hinweis auf ihre Bespitzelung durch die Stasi bloß interessant machen, weil sonst keiner ihre Gedichte lese.« Sicher hat der Autor des Kommentars, G. Nowakowski, nur vergessen zu erwähnen, daß die Autorin der SFB- Kolumne bis vor kurzem taz-Redakteurskollegin war. Da das Problem wahrscheinlich in der mangelnden Satirefähigkeit der taz begründet ist, liefern wir den Stein des Anstoßes heute nach. Es handelt sich nicht um eine »Kolumne«, sondern um eine Glosse in Dialogform. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied. d. Red.

Sei bloß ruhig, ich bin traurig«, sagt meine Freundin, als ich in die Küche komme. »Dieses Jahr kommt deine Novemberdepression aber ein bißchen verspätet«, sage ich ungerührt, »komm, ich werde dich erheitern mit ein bißchen Lyrik: Die einzigen, die nicht beim Stasi sind, sind die dabei sind.« »Versteh' ich gar nicht«, muffelt meine Freundin trübsinnig, »außerdem muß es doch bei der Stasi heißen und nicht beim Stasi.« »Quatsch«, sag' ich, doch recht froh, daß ich Annie noch in ein Gespräch verwickeln kann, es heißt nicht die Stasi, sondern der Staatssicherheitsdienst — außerdem ist das doch egal.« — »Aber es ist auch gar kein Gedicht, und noch nicht mal 'n lustiger Klospruch, es ist einfach nur eine Belästigung, ich will dieses Four-letter-word [Stasi ein Four-letter-word? Ich will ja nicht pingelig sein, aber Fünf laß ich heute nicht gerade sein! d. säzzer] nicht mehr hören...«, schreit Annie jetzt verbittert los, »ich will überhaupt keine Enthüllungen mehr vom Osten wissen, das ist ja schlimmer als die unendliche Lindenstraße. Nicht nur, daß einem ständig neue Namen um die Ohren gehauen werden, von denen man vorher nie gehört hat und über die man sich plötzlich empören muß, jetzt müssen wir auch noch die ganzen blöden Gedichte von denen lesen: wortgefege/ weinsinnig im Daseinsfrack/ feilt an windungen seiner selbst/ wahrlässig er allzu windig/ im gewühl fühlt er herum/ und windet sich nochmal heraus/ fund, kaum geborgen, bloss wort/ wasser, lauernd, von wall zu wall/ die spiegel mit fellen überzogen/ wetter, uns umschlagend, dunst. Natürlich auch noch Kleinschreibung — meine Güte, was waren das noch für Zeiten mit: Die Mitternacht zog näher schon/ in stummer Ruh lag Babylon/ den König grausets, er reitet geschwind und hält in den Armen das ächzende Kind. Versteht man doch sofort, was los ist, oder? Mir ist das doch scheißegal mit der Stasi, wenn sie wenigstens was schrieben, was ich verstehe. Früher hieß es immer, daß das versteckte Provokationen sind, selbst beim dümpeligsten Liedermacher, wenn der ich hatte einst ein feines mädchen sang, war das Protest gegen Honecker. Aber jetzt, jetzt könnten sie doch einfach sagen Honecker war 'ne dumme Sau. Statt dessen geht das immer weiter mit der Hieroglyphisierung.«

»Aber da haben wir doch gar keine Ahnung von, was die Dichtkunst betrifft«, wende ich ein, »wir haben doch spätestens bei Wilhelm Busch aufgehört und Belsazar oder Erlkönig war doch 'ne ganz andere Zeit.« — »Pah!«, winkt Annie ab, »dann nehmen wir eben Robert Gernhardt, auch von heute und echter Protest: Hört mich an, ihr Zahnärzte, laßt doch das Bohren, was habt ihr in fremden Mündern verloren? Ihr sucht da herum nach Kronen und Plomben und kümmert euch nicht um Unrecht und Bomben. Hört mich an, Förster, hört auf mit dem Jagen! Was habt ihr davon, den Hirsch zu erschlagen? Ihr starrt durch das Glas nach Hasen und Rehen, doch den leidenden Menschen wollt ihr nicht sehen. Siehste, versteht jeder und reimt sich auch noch...« — »Beruhige dich, meine Liebe«, versuche ich gütlich auf meine Freundin einzureden, »Gernhardt wohnt eben nicht im Prenzlauer Berg, wo die Kunst noch was wollen will.« — »Ach, hör doch auf mit diesem Ost- Worpswede — und das fast in jeder Richtung, ich glaube allmählich sowieso, daß es sich bei diesen ganzen Stasi-Stories letztendlich nur um einen sehr raffinierten Werbefeldzug zur besseren Vermarktung all dieser unerkannten Griffelwetzer geht — insofern muß man es eigentlich goutieren«, sagt Annie plötzlich mit einem bewundernden Unterton, »ich bin mal gespannt, wann die Westlyriker auch drauf kommen und sich gegenseitig denunzieren, damit man ihre Bücher kauft...« Also, darauf war ich ja noch gar nicht gekommen — ich liebe meine Freundin, wie sie mit dem Zeitgeschenen zurecht kommt — und das im November. Renée Zucker

Erstsendung am 30. 11 im SFB.