Emils Detektive auf dem Nollendorfplatz

■ Erich Kästners Detektive kreisten auf dem Nollendorfplatz den Dieb von Emils Geld ein/ Früher gehörte der Platz zum feudalen »alten Westen«, heute sieht er ein wenig traurig aus/ In der Gegend wohnten die literarischen Edelfedern

Schöneberg. Etwa im Jahre 1928 muß Erich Kästner den Emil getroffen, ihm eine Straßenbahnkarte geschenkt und seine Geschichte aufgeschrieben haben. Emil Tischbein, ein Junge aus Neustadt, hatte eigentlich nur seine Großmama und seine Cousine »Pony Hütchen« in Berlin besuchen wollen. Im Zug aber hatte ein gemeiner Schuft namens Grundeis dem schlafenden Jungen ganze 140 Mark aus der Jacke gezogen. Doch Emil blieb dem Dieb zusammen mit anderen Kindern auf der Spur — bis zu einem Hotel am Nollendorfplatz.

Die Fenster des Zimmers 61 gingen auf den Nollendorfplatz. Und als Herr Grundeis am nächsten Morgen, während er sich die Haare kämmte, hinuntersah, fiel ihm auf, daß sich zahllose Kinder herumtrieben. Mindestens zwei Dutzend Jungen spielten gegenüber, vor den Anlagen, Fußball. Eine andere Abteilung stand an der Kleiststraße. Auch am Untergrundbahnhof standen Kinder.

»Wahrscheinlich Ferien«, knurrte er und band sich den Schlips um.

Sie alle schoben Wache, während der Dieb Grundeis nichtsahnend seine Blicke über den Platz unter seinem Hotelfenster schweifen ließ. Ein netter, baumverschnörkelter Platz mitten im »alten Westen«, der feudalen Wohngegend Berliner Prominenzler. Grundeis war leider ein ungebildeter Tropf. Sonst hätte er sich vielleicht an den Schöneberger Millionenbauer Kielgan erinnert, der hier Mitte des 19. Jahrhunderts noch Felder und Äcker besaß. Alchimist Kielgan verwandelte gemeine Wiesenkräuter in pures Gold, als er diese in würziger Landluft gelegenen Grundstücke an die Reichsten der Stadt verkaufte.

In den Gründerjahren entstanden hier herrliche Villen mit Freitreppen, die in dämmerlichtige Treppenhäuser führten. Und um die Jahrhundertwende verknotete die neue Hochbahnstrecke zwischen Warschauer Brücke und Knie alias Ernst- Reuter-Platz den vornehmen Nollendorfplatz zu einer weltstädtischen Drehscheibe zwischen dem Osten und dem Westen Berlins. Umrahmt von Lichtern und knalligen Kinoplakaten, ergötzte sich die feine Gesellschaft im »Kaffee Woertz«, in »Hahnens Konditorei und Restaurant«, im »Ufa-Kino« oder im 1906 eröffneten »Neuen Schauspielhaus«, dem späteren »Metropol«.

Der Dieb Grundeis hätte das Theater mit seiner wuchtigen braunschwarzen Fassade und seinem imposanten Portalsbogen sehen können, wenn er sich nur weit genug aus dem Fenster gebeugt hätte. Aber dieser Ignoranzling interessierte sich nicht die Bohne für die avantgardistischen Stücke des Intendanten Erwin Piscator. Sondern nur für Geld. Schließlich war er von Beruf Bankräuber.

»Da hilft nur eins«, meinte Emil. »Wir müssen unsern Plan ändern. Wir können den Grundeis nicht mehr mit Spionen umringen, sondern wir müssen ihn richtig jagen. Von allen Seiten und mit allen Kindern.«

»Das habe ich mir auch schon gedacht«, erklärte der Professor. »Wir jagen ihn, bis er sich ergibt.«

»Wunderbar«, schrie Gerold.

»Er wird lieber das Geld wieder hergeben, als stundenlang etwa hundert schreiende Kinder hinter sich her zu haben, bis die ganze Stadt ankommt und die Polizei ihn schnappt«, meinte Emil.

Die Kinder machten sich also Richtung Hotel davon. Womöglich hat sie Erich Kästner am Fenster vorbeilaufen sehen, als er gerade mit diversen Dichterkollegen im »Café Adler« saß. In diesem Café nämlich trafen sich in den zwanziger Jahren Leute wie Alfred Döblin, Ludwig Marcuse oder Ödön von Horvath. Auch für Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs, die beiden großen jüdischen Dichterinnen, oder Kurt Hiller und Walter Mehring war die literaturgeschwängerte Luft rund um die »Nolle« ein Balsam. Und der homosexuelle Engländer Christopher Isherwood, der sich in der Nollendorfstraße als Englischlehrer einquartiert hatte und zuwenig Geld besaß, um die ringsum entstehenden Schwulenbars zu delektieren, setzte in Cabaret der Atmosphäre des Metropol am Nollendorfplatz ein politisch-literarisches Denkmal. Doch nicht nur durch den Cabaret-Film trampelten die Nazis, sondern auch durch die nach Erwin Piscators wirtschaftlichem Scheitern im Metropol eröffnete Filmbühne.

Schon im Dezember 1930 sprengten sie die Premiere des Antikriegsfilms Im Westen nichts Neues, indem sie weiße Mäuse über das Parkett laufen ließen. Und zweieinhalb Jahre später saßen sie fest im Sessel der Macht. »Immer wieder kommen Staatsmänner mit großen Farbtöpfen des Wegs und erklären, sie seien die neuen Baumeister. Und immer wieder sind es nur Anstreicher. Die Farben wechseln, und die Dummheit bleibt!« schrieb Erich Kästner verbittert. Doch wenigstens sein Emil hatte sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Der Mann im steifen Hut trat gerade aus der Hoteltür, stieg langsam die Treppe herunter und wandte sich nach rechts, der Kleiststraße zu. Der Professor, Emil und Gustav jagten ihre Eilboten zwischen den Kindertrupps hin und her. Und drei Minuten später war Herr Grundeis umzingelt...

Ihm wurde die Geschichte immer unheimlicher. Er bekam wirklich Angst und wußte nicht mehr, wohin. Schon sahen Leute aus allen Fenstern und fragten, was los wäre. Wenn jetzt ein Polizist kam, war‘s aus.

Da erblickte der Dieb eine Filiale der Commerz- und Privatbank. Er durchbrach die Kette der Kinder, eilte auf die Tür zu und verschwand...

Verschwunden ist so vieles seitdem. Verschwunden ist das literarische Treiben am Nollendorfplatz, verschwunden und zerstört sind die alten Häuser, verschwunden ist das weltstädtische Flair. Nach dem Krieg blieb auf dem Platze wenig mehr als ein Totenkranz von Trümmern zurück, in dem die Straßenbahn ihre Endstation fand. Das Metropol, 1943 nach einem Bombenangriff ausgebrannt und in der Zeit des Wirtschaftswunders als »Schandfleck« insultiert, sollte Mitte der sechziger Jahre geschleift werden. Doch es überstand auch den städtebaulichen Angriff und verblieb als letztes bestaunenswertes Gebäude am Platze, während ringsherum die häßlichen Funktionsbauten der frühen siebziger Jahre in die Höhe schossen: das in Grau und Zitronengelb changierende Betonterrassenhaus an der Kleiststraße oder die zwölfgeschossige Betonburg zwischen Maaßen- und Bülowstraße, in der sich ebenerdig ein Supermarkt breitgemacht hat.

Wäre nicht der überquirlende Kiez in der Maaßen- und Winterfeldtstraße, der die Flaneure von allen Seiten anzieht, der Nollendorfplatz wäre heute wohl ein recht ödes, dem Verkehr zum Fraß vorgeworfenes Gelände. Nicht mal mehr die Bank, in der der Dieb Grundeis von Emil und den Detektiven gestellt wurde, ist mehr vorhanden, alleine das Metropol, nunmehr das »Loft« und eine Diskothek beherbergend, hat als unübersehbarer Akzent alle Zeiten übertrutzt.

»Also, meine Herren, auf Ehrenwort: das Geld gehört wirklich mir. Ich werde doch keine kleinen Kinder berauben!«, behauptete der Dieb.

»Halt!«, schrie Emil plötzlich und sprang in die Luft, »Halt! Ich habe mir im Zug das Geld mit einer Stecknadel in der Jacke festgesteckt. Und da müssen Nadelstiche in den drei Scheinen sein!«

Der Kassierer hielt das Geld gegen das Licht. Die anderen hielten die Luft an. Der Dieb trat einen Schritt zurück. Der Bankvorsteher trommelte nervös auf dem Tisch herum.

»Der Junge hat recht«, schrie der Kassierer, »in den Scheinen sind wirklich Nadelstiche!«

»Und hier ist auch die Nadel dazu«, sagte Emil und legte die Nadel auf den Tisch.

Da drehte sich der Dieb blitzschnell um, stieß die Jungen links und rechts zur Seite, daß sie hinfielen, rannte durch den Raum, riß die Tür auf und war weg.

»Ihm nach!«, schrie der Bankvorsteher.

Alles lief nach der Tür.

Als man auf die Straße kam, war der Dieb schon von mindestens zwanzig Jungen umklammert. Sie hielten ihn an den Beinen. Sie hingen an seinen Armen, an seinem Jackett. Er kämpfte wie wild. Aber die Jungen ließen ihn nicht los. Und dann kam auch schon ein Polizist... Ute Scheub