Mittelalterliche Inquisition live

■ Im Prozeß gegen den Frauenarzt Theissen richtete ein BRD-Gericht zum ersten Mal über Notlagenindikation

„Es ist Krieg“, kommentierte Gerhard Mauz, der großartige Gerichtsreporter im 'Spiegel‘, nachdem das Urteil gegen den Memminger Frauenarzt Horst Theissen am 5. Mai 1989 gefallen war. „Dieses Urteil trennt die Menschen in der Bundesrepublik voneinander. Es scheidet Menschen von Unmenschen“, schrieb er seine Empörung hinaus, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit ihm teilte.

Als „Hexenprozeß" ging der größte und spektakulärste Abtreibungsprozeß in der Bundesrepublik in die Geschichte ein. Acht Monate lang, in 60 Verhandlungstagen, saßen bayerische Landrichter wie mittelalterliche Inquisitoren zu Gericht. Auf der Anklagebank — wegen illegaler Abtreibungen in 156 Fällen: der damals 50jährige Horst Theissen, aber auch seine Patientinnen und die Notlagenindikation des §218.

Staatsanwaltschaft beschlagnahmte gesamte Patientinnen-Kartei

Im Herbst 1986 war aufgrund einer anonymen Anzeige die Steuerfahndung wegen Verdachts auf Steuerhinterziehung auf den Memminger Gynäkologen aufmerksam geworden. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte daraufhin seine gesamte Kartei mit den Daten von 1.390 Patientinnen. Theissen war weit über Memmingen hinaus die Adresse für Frauen, die einen verständnisvollen, guten Arzt und in vielen Fällen auch eine Abtreibung suchten — in Bayern fast eine Unmöglichkeit. Theissen aber machte Abbrüche, obwohl ihm das als freipraktizierender Arzt im Freistaat nicht erlaubt war, seine Adresse wurde unter der Hand weitergegeben. Theissen stand schon seit einer Weile unter Verdacht. Und als die Staatsanwaltschaft, die ursprünglich wegen eines Steuervergehens aktiv geworden war, auf zahlreichen Patientinnenkarten ein grünes „I“ für „Interruptio“, der lateinische Fachbegriff für Abtreibung, fand, begann die Verfolgungsjagd. Gegen 277 Frauen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs ein, 139 wurden rechtskräftig verurteilt. Aus Scham und Angst vor der Öffentlichkeit nahmen die meisten den Strafbefehl — mit Strafen bis zu 3.200 Mark — widerspruchslos hin. Die wenigen, die vor das Amtsgericht gingen, wurden stereotyp abgeurteilt: Eine Notlage habe nicht vorgelegen, die Frau hätte das Kind austragen und anschließend zur Adoption freigeben können. Auch Ehemänner, Lebensgefährten und Freunde wurden wegen „Beihilfe zur illegalen Abtreibung“ verurteilt.

Während die Frauen vor dem Amtsgericht in Serie — und von der Öffentlichkeit wenig beachtet — abgeurteilt wurden, konzentrierten sich die Medien vor allem auf den Angeklagten Theissen. Er habe, so hieß es in der Anklageschrift, abgetrieben, ohne daß eine Indikation vorgelegen habe. Theissen hingegen sagte, er habe sich in jedem einzelnen Fall von der Notlage der Frau überzeugt, eine Notlagenindikation sei also gegeben gewesen. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit wurden 79 Frauen, teils unter Androhung von Beugehaft, in den Zeuginnenstand gezwungen und mußten dort ganz intime, auch süffisante Fragen, etwa nach dem Zustand ihrer Ehe oder Partnerschaft, über sich ergehen lassen. Und was immer sie sagten, wendeten die Staatsanwälte gegen sie — „keine Notlage“. Zweifellos hatte Theissen einige Vorschriften des Paragraphen 218 ff nicht eingehalten, die der Instanzenweg zur Einhaltung einer ordnungsgemäßen Indikation vorsieht. Er hatte auch abgetrieben, wenn eine Patientin keinen Nachweis über eine soziale Beratung und die Indikationsstellung eines anderen Arztes oder einer anderen Ärztin nicht vorlag. Aber der Strafrahmen für diese Vorschriften des Paragraphen 218b und 219 sieht maximal ein Jahr Freiheitsentzug oder eine Geldstrafe vor.

Verlangen nach Abschreckung

Die Staatsanwälte aber forderten drei Jahre und sechs Monate Haft und ein dreijähriges Berufsverbot. Dem Memminger Gericht verlangte es nach Abschreckung: Zweieinhalb Jahre Haft und drei Jahre Berufsverbot lautete das Urteil. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung legten dagegen Revision ein. Der Verurteilte mußte seine Praxis in Memmingen schließen. Er hat sich inzwischen als Arzt für Naturheilkunde in Südhessen niedergelassen. Zum ersten Mal nach der Reform des Paragraphen 218 hatten sich Richter angemaßt, Indikationen im nachhinein zu überprüfen und abzuerkennen. Längst vergangen geglaubte Zeiten, als Frauen noch auf Küchentischen verbluteten, wurden plötzlich wieder lebendig. Die sozialen Christen hatten ihre Front gegen den §218, besonders aber gegen die Notlagenindikation bedrohlich ausgeweitet. Ulrike Helwerth