Die Mauer bröckelt zentimeterweise

■ Forsa-Meinungsumfrage unter 1.280 Berlinern/ Ossis progressiver und weniger ausländerfeindlich?/ Auf Diepgen vertrauen selbst Grün-Wähler

Berlin. Die Ergebnisse einer repräsentativen Telefonumfrage des »Forsa«-Meinungsforschungsinstituts sind dazu angetan, so manchen Mythos über Ossis und Wessis zu erschüttern. Ende November hatten die MitarbeiterInnen der neuen Berliner Zweigstelle von Forsa insgesamt 1.280 BerlinerInnen — 502 aus dem Osten und 778 aus dem Westen — zu ihrer persönlichen Befindlichkeit ausgefragt. Resultat: Entgegen landläufigem Gerede empfinden 64 Prozent aller EinwohnerInnen — 67 Prozent aus dem Osten und 61 aus dem Westen — die Vereinigung Berlins als »Bereicherung«. Die ParteigängerInnen der FDP scheinen dabei mit 87 Prozent am glücklichsten zu sein, während die AnhängerInnen der PDS sie nur zu 35 Prozent als »Bereicherung« empfinden.

17 beziehungsweise 15 Prozent der Wessis sehen das Beste an der Vereinigung darin, daß »Berlin wieder eine normale Stadt ist« und nun auch für sie eine »landschaftliche Umgebung« besitzt, während 27 Prozent der Ossis vor allem die »besseren Einkaufsmöglichkeiten« wertschätzen. Nach den größten Problemen gefragt, fühlen sich rund ein Drittel aller Befragten in Ost und West vor allem durch den gestiegenen Verkehr genervt. Doch für 42 Prozent der Westler ist die »Wohnungsnot« noch schlimmer. Für die Ex-DDRler folgt auf der Problemliste »Arbeitslosigkeit» (27 Prozent der Nennungen), das »Ost-West-Gefälle« (24 Prozent) und »Kriminalität und Drogen« (21 Prozent). Ein weiterer Unterschied zwischen Ost und West untergräbt den Mythos vom ausländerfeindlichen Ossi: Während »nur« 5 Prozent der OstbewohnerInnen in »Asylanten und Ausländern« das größte Problem sehen, sind es im Westen sogar 15 Prozent. Ein kleiner Trost ist hier nur, daß in beiden Stadthälften mit 14 beziehungsweise 17 Prozent die Zahl derjenigen, die sich Sorgen über den Ausländerhaß machen, größer ist als die Zahl der Ausländerfeinde. Was private Verbindungen in die andere Stadthälfte betrifft, so sind die Ostler kontaktfreudiger als die Westler. 29 Prozent Ossis besuchen mindestens zweimal in der Woche jemanden im anderen Teil Berlins, während 33 Prozent der Westler überhaupt nie in die andere Stadthälfte gehen. Die Einschätzungen, was die andere Seite der Stadt zu bieten hat, differieren erheblich: 58 Prozent der Ostler gehen nach West- Berlin, um einzukaufen (umgekehrt: 6 Prozent), während 50 Prozent der Westler in Ost-Berlin vor allem Kulturveranstaltungen besuchen (umgekehrt: 29 Prozent).

Auch im Hinblick auf Flexibilität liegen die Ex-DDRler vorn: Einen Umzug in den anderen Teil der Stadt können sich 49 Prozent aus dem Osten, aber nur 32 Prozent aus dem Westen vorstellen. Die Ressentiments zwischen Ossis und Wessis scheinen jedoch auch bei der Frage des Wohnorts immer noch ungebrochen: 16 Prozent der Westler geben an, eine »Abneigung gegen Ost-Berlin« zu haben, während 14 Prozent der Ostler wegen der »Mentalität der Menschen« nicht nach West-Berlin ziehen würden.

Interessante Einzelergebnisse förderten die Forsa-Fragen nach den Verkehrsmitteln zutage. Während die Ostler vorwiegend öffentliche Verkehrsmittel benutzen (Osten: 65 Prozent, Westen: 53 Prozent), fahren die Westler häufiger mit dem Auto (Westen: 44, Osten: 36) oder auch mit dem Fahrrad (Osten: 5, Westen: 9). Aufgeteilt nach Parteipriorität, führen die CDU-AnhängerInnen die Liste der Autofans an (52 Prozent), während die Grünen-WählerInnen zu 21 Prozent ein Rad und immerhin auch noch zu 37 Prozent einen Privatwagen besteigen.

Geradezu kurios liberal-autoritätsgläubig ist das Vertrauen der BerlinerInnen in die Politik. Auf der einen Seite zeigen sich 41 Prozent der Westler und 28 Prozent der Ostler unzufrieden mit der Arbeit des schwarz-roten Senates. Auf der anderen Seite aber wird der Regierende Bürgermeister bis in grüne Reihen hinein geschätzt: Selbst 54 Prozent der AnhängerInnen des Bündnis 90 und 24 Prozent der PDS-Sympathisanten vertrauen ihm, und die Liste der »wichtigen Politiker in Berlin« führt er mit 71 Prozent aller Nennungen unangefochten an. Ute Scheub