Wandflächen nicht bekleben

Zum diesjährigen Leipziger Dokumentarfilmfestival  ■ Von Dietmar Hochmuth

Die Dame an der Hotelrezeption beharrte auf der Enttarnung des Buchstabens „O“ oder „W“ vor der Postleitzahl. Ich sollte mich mit einem noch nicht renovierten Zimmer, gestylt im Interhotel- Chic der 60er mit Sprelacart und Sperrholz zufriedengeben. Der Preis war derselbe wie für die renovierten Zimmer, die Währung ist es bekanntlich auch, also, sagte ich, wäre ich ein schlechter Zauberlehrling in Sachen Marktwirtschaft, wenn ich das alte DDR-Zimmer nähme. Das sollten ruhig die Westler haben, die sehen sich dann wenigstens bestätigt in ihrem nostalgischen Vorurteil, im Osten bliebe alles beim Alten. In der Hotelrezeption jedenfalls wird die deutsche Teilung fortgeschrieben.

Dagegen war das Festivalklima eher ausgeglichen, fast devot. Es gehört eben zusammen, was nicht recht zusammenwächst. Vorbei sind die Zeiten, da Leipzig dreimal im Jahr, zur Frühjahrs- und Herbstmesse und im November, zur Dokfilmwoche, ein Fenster zur weiten Welt war, aus dem sich so viele, plötzlich dokumentarfilminteressiert, mit Fernweh-Heiratsabsichten herauslehnten. Da kommt heutzutage bei Stammgästen aus dem Westen sogar Frust auf — angesichts der erkalteten Gastfreundschaft und gesunkenen Neugier für den Dokumentarfilm. Noch nie, war zu hören, wurden für Leipzig soviele Filme eingereicht wie in diesem Jahr, und noch nie, das war zu sehen, kamen so wenig Zuschauer. Dabei gab es viele gute Filme zu sehen. Aber das Festival schien unter der neuen Kuppel von Öffentlichkeit eher ratlos, zurückgezogen, und, was die Präsentation und Verteidigung der Filmauswahl betraf, sogar verschanzt. Ob in den Kinos, Foyers oder in den Wandelgängen — ich hatte nicht selten die böse Ahnung, eine Bombendrohung überhört zu haben, so leergefegt waren die über viele Jahre stets baupolizeilich bedrohlich überlaufenen Kommunikationszentren am Schnittpunkt von Ost West. Und anstelle der vertrauten bunten Poster hingen in diesem Jahr in regelmäßigen Abständen nur Plakate mit der Aufschrift: „Wandflächen nicht bekleben!“

Die Flügel der Festivaltaube wurden diesmal von der Lufthansa gestützt, die entsprechend diskret Einladungen an die Luxusstrände der heilen Welt verteilte. Und es war wohl eine glückliche Fügung, daß sich in die Eröffnung einige hundert Kids mischten und mit ihrem Ruf „All I need is DT 64“ Leben in eine ansonsten blasse Zeremonie brachten. Tagelang waren sie mit ihrer Unterschriftensammlung für den zu Silvester zu exekutierenden Sender auch oft die einzigen im Kinofoyer. Zwar hatte die Festivalintendantin den flotten Spruch auf den Lippen „Wir sitzen alle in einem Boot“, aber so tragisch gering ist der Etat mit seinen 1,6 Millionen in Zeiten sozialer Verwerfungen ringsum im Osten nun auch wieder nicht.

Larmoyanz auch bei der Conference zur Eröffnung: Da wurde jene Gewalt gegen stumme Kerzenträger, die vor zwei Jahren noch auf LKWs abtransportiert worden waren, mit der gegen Ausländer heute vermischt: „Gewalt ist geblieben. Sie hat nur ein anderes Gesicht.“ (Intendantin Christiane Mückenberger) In diesem Selbstzitat vom Vorjahr wurde das eigene Schweigen von damals allerdings nicht erwähnt, und die Quersumme der Empörung impliziert für den Uneingeweihten stete Opposition, damals wie heute. Man darf gespannt sein, welche Nuance im nächsten Jahr dazukommt.

Nach der Implosion des Ost- West-Konflikts infolge Niedergangs der einen Seite hat auch das Leipziger Festival seinen ambivalenten Öffentlichkeitswert eingebüßt. Früher entlockte hier eine Seite der anderen geheime Botschaften, versteckte Mitteilungen, mußte Wallraff, an Scharen von Fans vorbei, durch Heizungskeller ins Kino geleitet werden, war der Gang eines DDR- Filmemachers zu einem Westempfang ein Akt von Selbstbehauptung. Diesmal nun gähnte Leere, und es scheint, als sei auf der verständlichen Suche nach Sponsoren die nach den Inhalten auf der Strecke geblieben. Die Programmgestaltung jedenfalls ließ offen, wonach die Filme für Wettbewerb und Information ausgewählt worden waren. Vorherige Festivalteilnahmen oder Fernsehausstrahlungen waren jedenfalls kein Hinderungsgrund — der Wettbewerb war randvoll von bereits bekannten Filmen.

So fand auch dieses Jahr in Leipzig kein Neuanfang statt. Die deutschdeutsche Problematik wurde auf dem Silbertablett präsentiert, als habe das Festival in seiner einst sturen Ausrichtung und Anbindung an Staat und Partei nicht auch etwas zu tun mit dem „plötzlichen Zusammenbruch“. Entsprechend beleidigt liefen die alten Veranstalter umher, sie hätten ja, wenn sie nur gedurft hätten, und würden, wenn sie nur dürften, alles wieder gutmachen. Als neuer Mensch auf altem Posten. Vielleicht kann Leipzig wieder größer werden durch Selbstbescheidung. Ein kleineres Kino ist schneller voll und ermöglicht eher den Austausch als das leere Bolschoi- Theater.

Eine Tendenz der diesjährigen Schau der Dokfilme aus der „ehemaligen“ war die Besinnung auf alte Tugenden: die Gestaltung eines Themas als Film dominierte wieder die Themen selbst und ihre quasi journalistische Präsentation. Freilich mit unterschiedlichem Grad an innerer Beteiligung. Ein Novum in diesem Punkt war Eisenzeit von Thomas Heise, ein Film der DEFA, der der Regisseur zehn Jahre lang nicht angehören durfte. Geschult an Ersatzübungen für den Rundfunk, entwirft Heise in einer strengen, schmucklosen Ton-Bild-Montage das Bild einer Generation, die in Eisenhüttenstadt vor lauter dicker Luft das Kotzen bekam und den Ausbruch versuchte. In zwei Fällen endete er tödlich — der Film über sie wurde damals nicht verboten, sondern „verhindert“. Für Heise war der Mauerfall bestimmt eine glückliche Fügung, immerhin kam er mit Klaus Wildenhahn und dem NDR zusammen und konnte so seinen Karriereknick begradigen. Aber auch die alte DEFA war zu sehen, mit ihrem traditionellen Lamento und Gottsuchertum.

Joachim Tschirner porträtierte über Jahre die Arbeiterin Katrin aus der Maxhütte — als Mensch. Nun ist Katrin nicht mehr in der Volkskammer, ergibt sich ganz dem Frust der von der Geschichte Überrollten, die da wollten, aber nicht durften und heute nicht mehr können: Katrins Hütte. Eduard Schreiber zeigt eine Müllkippe mit DDR-Resten (ein Gorbatschow-Bild, alte Formulare usw.) — ein Land wirft sich weg und entsorgt seine Spuren. Der schlichte Gedanke wird in schönen, fast zu schönen Bildern realisiert und mit Caruso unterlegt: Östliche Landschaft. Nüchterner und genauer dagegen die Arbeiten jüngerer Filmemacher, die in der Videowerkstatt liefen — archäologische Studien zur DDR-Geschichte am Beispiel der früheren Stalinallee oder Beobachtungen zum landesweiten Abriß (Wenn wir untergehen, gehen wir alle unter von Peter Welz) oder die videografische Recherche in einem Dorf in Sachsen (Im schönsten Wiesengrunde von Peter Badel und Dieter Chill). O-Ton: „Wir haben die Erlösung erhofft und nicht den Untergang...“

Leipzig offenbarte aber auch den handwerklichen Erkenntnisstand des Dokfilm-Prototyps dieser Tage: Da fragt ein Filmer im off, bleibt anonym, oft sogar unverständlich; Wirklichkeit wird vorgeführt, manchmal wie bei einem Verhör. Filme, die eine vermittelnde Diktion finden und dennoch nicht verwischen, waren seltener. Nichts macht so müde wie das Journalistische von sprechenden Bildern.

Die sowjetischen Dokumentarfilme widerspiegelten in ihrer teils verworrenen Philopsophie das Ausmaß des in seiner Komplexität noch bevorstehenden Umbruchs und der Konfusion. Zum Beispiel Am Rand von Boris Schunkow: ein Kinderheim mit verwahrlosten und mongoloiden Insassen „als Opfer der Psychiatrie einer totalitären Gesellschaft... Eine Metapher für Rußland“ (aus dem Katalog). Am Ende werden noch vergewaltigte Nonnen erwähnt; schuld an allem sind die roten Vergewaltiger — Wahrheit oder Spekulation? Auf alle Fälle wird vermengt, verkürzt, abergläubisch verwirrt. Vielleicht stört mich auch, daß solche Art Film schon wieder mit dem Strom schwimmt. Der Genuß am Verfall bekommt eine neuerlich apologetische Note.

Leipzig muß auf alle Fälle bleiben, alles andere wäre ein falscher Schluß aus diesen Zweifeln. Aber vielleicht muß es nicht so bleiben, wie es ist. „Das ist alles vorbei“, meinte der Fahrstuhlführer, „früher vier Etagen, wir fuhren drei Schichten, heute nur noch noch zwei Stockwerke, kaum Leute, naja, kann ich wenigstens die Anzeigen in der Zeitung studieren.“