Der Fall Fink: Intellektuelle Statisten

Der Fall Fink: Intellektuelle Statisten

Es gibt ein Zauberwort: »Melden«. In der ehemaligen DDR schien es sehr verbreitet. Nicht so sehr der Begriff, sondern die Funktion selbst. Man mußte melden, wenn der Besuch aus dem Ausland kam oder wenn ein Kollege Post aus den kapitalistischen Ländern erhielt. Das war die übliche Ordnung, die keinerlei moralischen Zweifel in sich trug. Fast konnte man sagen, es war eine Banalität, wenn dieser Begriff früher nicht in bezug auf die anderen, viel schrecklicheren Ereignisse verwandt worden wäre. Und doch wuchs diese Banalität der alltäglichen Gemeinheit über unbedeutende Kleinigkeiten fort, um die Früchte des Bösen reifen lassen. Achillus und die Schildkröte sind zusammen zum Zielstrich gekommen. Jetzt wehrt sich natürlich die Schildkröte gegen die Forderung, sie müsse auch einen Teil der Mitschuld übernehmen, mit dem Argument, sie könne aufgrund ihrer Verfassung überhaupt nicht so schnell laufen wie Achillus. Eine Lösung des Sophismus ist also nicht in Sicht.

Der Fall Fink ist ein Symptom hierfür. Es ist eigentlich offensichtlich, daß alle mehr oder weniger hohen DDR-Beamten Drahtzieher der SED-Politik waren. Allein der Verlauf ihrer Karrieren, die, ohne zu melden, ohne zu lügen, ohne die Karriere von Andersdenkenden oder Systemunfähigen zu zerstören, undenkbar gewesen war, gäbe Anlaß, diese Menschen aus ihren Ämtern zu entlassen. Man bräuchte eigentlich keine Stasi-Überprüfung, weil ihre wirkliche oder angebliche Stasi-Vergangenheit nur einen Teil — und vielleicht sogar nicht den schmutzigsten — ihrer gesellschaftlichen Existenz ausmachte.

Vielleicht hat Rektor Fink am Anfang seiner Karriere etwas unterschrieben, vielleicht auch nicht. Aber es ist kaum vorstellbar, daß er im Laufe seines Aufstiegs gegenüber der SED ungehorsam war oder die Universität zur Oase freien Denkens machte. Daß es nicht der Fall ist, zeigt bereits die Unterstützung seiner Mitarbeiter, die er vor der Abwicklung zu schützen suchte. Natürlich will keiner gehen. Und trotzdem ist es demütigend, zu sehen, wie demagogisch Rektor Fink verteidigt wird und inwieweit die Hervorhebung seiner menschlichen Qualitäten nicht mit der Achtung ihm gegenüber zu tun hat, sondern mit den Existenzängsten der Betroffenen.

Ängste um den eigenen Sozialstatus sind nicht peinlich — in der ganzen Welt ist es nicht anders. Peinlich jedoch ist die Unfähigkeit, frei über sich selbst nachzudenken, im Zerfall eine Chance zu erkennen, etwas Neues zu verstehen, anstatt sich nur zu wehren. Ohne geistige Autonomie wird der Intellektuellenstatus zu dem eines Statisten. Statisten aber haben immer recht und sind nie schuldig. Der Fall Fink wird für sie nur ein Beweis für die Willkür der arroganten Wessis, die mit ihrem unmenschlichen Konsumkapitalismus die guten und naiven Ossis bedrängen. Dies ist die östliche Seite des Problems.

Die westliche Seite fängt da an, wo die Interessen des westdeutschen Gelehrtentums und der sogenannten Elite betroffen sind. Im Konflikt um die Rektorstelle spiegelt sich der Kampf für eine Musteruniversität wider, die mit den alten DDR-Mitarbeitern nicht zustande zu bringen ist. Diese Kämpfe finden überall in der DDR auf verschiedenen Ebenen statt. Nur gibt es weitaus mehr Professoren aus der Bundesrepublik, die lieber nach Berlin ziehen wollen als in die anderen ostdeutschen Städte. Die Hauptstadt Berlin reizt und beflügelt. Die Stasi-Verdächtigung scheint so ein einfacher und bequemer Anlaß, die gewünschte Stelle freizuräumen. Das ist eine ideologische Verdeckung des Kampfes von Beamten für ein besseres Leben im vereinigten Deutschland. Der Gewinnler ist bekannt.

Die Humboldt-Uni würde noch mehr gewinnen, wenn der Beamtenstatus für Professoren aufgehoben würde. Dann bestünde eine wirkliche Hoffnung, daß sie nicht zur Beamten-Universität, sondern zur Elite-Universität wird. Dies wäre aber schon ein Angriff auf deutsches Heiligtum. Schließlich war auch Goethe ein Beamter, oder?

Die Russin Sonja Margolina lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.