ESSAY
: Der Boden wankt

■ Schade, wir hätten Gorbatschow gern in besserer Erinnerung behalten!

Alles in diesem Lande scheint heutzutage knapp zu sein. Am meisten mangelt es jedoch an Zuverlässigkeit und Bestimmtheit. Das politische Leben scheint einem riesigen Sumpf gleich, der selbst die gewagtesten Pläne als hundertprozentig sicher geltende Programme und die festesten Gelöbnisse verschlingt. Manchmal spürt man beinahe physisch, wie der Boden unter den Füßen wankt.

Noch Sonntag abend hieß es: Die Sowjetunion als Subjekt des internationalen Rechts und als geopolitische Realität hat aufgehört zu existieren. Dafür bilden drei unabhängige Staaten eine Gemeinschaft. Früher konnte man, wie es bei mir der Fall war, nur hoffen, daß die Selbstbestimmung einzelner Unionsrepubliken ein Neubeginn sei, daß ihr Zusammenschluß aufgrund neuer Prinzipien erfolgen werde. Aber solange dies nicht geschah, fehlten hierfür die Beweise. Und nun endlich war das Bestimmte da!

Doch schon Montag mittag wurde die Freude getrübt. Die Presseagenturen meldeten, die Vereinbarung sei eine bloße Initiative der drei Republiken gewesen, und man werde dieses Dokument als Variante neben dem zweiten, von Gorbatschow vorgeschlagenen Entwurf den Parlamenten aller anderen Republiken zur Erörterung und Auswahl darbieten. Am Dienstag dann ratifizierten die Parlamente in Kiew und Minsk die Vereinbarung. In Moskau erläuterte dafür der starke Mann des russischen Weißen Hauses, Gennadi Burbulis (Jelzins erster Stellvertreter in der Regierung), die Klausel über die Nichtexistenz der Sowjetunion bedeute nur, daß der Prozeß ihres Absterbens begonnen habe. Ähnliches hat bereits Mark Twain gesagt: „Die Gerüchte über meinen Tod sind etwas übertrieben.“

Das Paradoxe der Situation ist, daß der Patient tatsächlich schon klinisch tot ist. Nur: Die Hinterbliebenen können sich nicht darüber einigen, ob es denn noch Sinn macht, den letzten Wiederbelebungsversuch zu unternehmen, oder ob das künstliche Herz sofort abgeschaltet werden soll. Den einen kommt der Tod ungelegen, und sie klagen, die zweite Entscheidung sei unmoralisch und brutal. Die anderen hingegen empfinden den Tod als Befreiung und sehen keinen Grund, dem hinscheidenden Imperium nachzuweinen.

Da die einfachen BürgerInnen die medizinische Fachsimpelei kaum verstehen, harren sie der Dinge in der Hoffnung, endlich einmal ein klares Wort zu vernehmen. Doch auch in den Medien herrscht Verwirrung: Am gleichen Tag, an dem die sensationelle Meldung aus Minsk kam, berichtete das Fernsehen mehrmals in apokalyptischer Manier von einem drohenden atomaren Bürgerkrieg in der UdSSR. Eine Prophezeiung, die James Baker zugeschrieben wurde. Da hier gut bekannt ist, daß die Amerikaner Gorbatschow rechtzeitig vor dem Putsch gewarnt haben, geben solche Prognosen den Menschen selbstverständlich zu denken. Doch schon am nächsten Tag begrüßte die elegante Sprecherin des Weißen Hauses, Margaret Tutwiler, via Bildschirm und im Namen der amerikanischen Administration die Bildung einer neuen Staatengemeinschaft. Kein Wunder, daß die ersten (zum Teil nicht repräsentativen Umfragen) zeigten, daß selbst unter den Intellektuellen und Angestellten nur etwas mehr als die Hälfte die neue Union eindeutig begrüßen.

Vehement gegen die Union sind nicht viele. Aber ein großer Teil hat einfach keine Meinung. Wenn diese Klarheit jedoch nicht in Kürze geschaffen wird, kann dies schlimme Folgen haben — vor allen Dingen für Jelzin und dementsprechend auch für den Reformprozeß in Rußland.

Die jetzige Situation verdient, künftig in alle politologischen Standardlehrbücher aufgenommen zu werden, weil sie in aller Deutlichkeit die Vor- wie Nachteile einer Präsidentenregierungsform vorführt. Einerseits haben drei Republiksoberhäupter dank ihrer großen Vollmachten blitzschnell einen Ausgang aus der Novo-Ogarevo-Sackgasse gefunden und damit Gorbatschow matt gesetzt. Andererseits nicht in einem Zug. Denn falls der Unionspräsident sich nicht zur Aufgabe seines Postens auf friedlichem Wege bereit erklärt, sieht die Verfassung keine legitimen Gegenmaßnahmen vor. Der noch nicht in Vergessenheit geratene Augustputsch schließt — wie ich hoffe — eine gewaltsame Lösung aus.

Zu viel hängt nun von den Persönlichkeiten der Hauptakteure des sich abspielenden politischen Dramas ab. Gorbatschow fühlt sich wohl nicht weniger verraten als vor dreieinhalb Monaten. Für ihn scheint jetzt endgültig die Stunde der Wahrheit geschlagen zu haben. Er, der immer sehr verschlossen war, zeigt in diesen Tagen sein leider nicht sonderlich angenehmes Gesicht. Gerade die letzten beiden, fast hysterischen Fernsehinterviews bewiesen, wie wenig realistisch seine Vorstellungen von der Wirklichkeit und seinem eigenen Einfluß auf die Ereignisse sind. Noch wichtiger aber ist die Tatsache, daß er überdeutlich demonstrierte, wie zutiefst autoritär er in seiner Denkart ist und welche unbedeutende Rolle für ihn die demokratische Legitimität spielt. Hauptsache, er ist überzeugt. Schon allein dies genügt ihm, um über die Köpfe der von ihrer Bevölkerung gewählten Politiker hinweg an die Öffentlichkeit zu appellieren und die eindeutigen Ergebnisse des Volksentscheids in Frage zu stellen. Damit rührt er an die gefährlichsten Fragen, malt das Gespenst möglicher Territorialansprüche an die Wand und tut dies, obwohl gerade das durch die Dreierverabredung entschärft zu sein scheint. Kein Zufall wird sein, daß sich gegen den Dreierbund die neue „Russische Kommunistische Arbeiterpartei“, die 'Prawda‘ und der ewig muntere und redselige Ligatschow zu Worte melden. Schade, wir hätten einen anderen Gorbatschow in Erinnerung behalten können!

Auch der kasachische Präsident Nasarbajew gibt zu spüren, wie gekränkt er sich fühlt. Dabei betont er — sicherlich nicht unabsichtlich — ebenso wie der azerische Präsident Mutalibow den slawischen Charakter der neuen Staatengemeinschaft. Unverzüglich haben sich führende russische Politiker von dieser Auslegung ihrer Intentionen distanziert. Doch wenn man bedenkt, daß auf der jüngsten Tagung der „Islamischen Konferenz“ in Dakar nicht nur Aserbaidschan die Vollmitgliedschaft gewährt wurde, sondern auch Kasachstan vertreten war, wird eines klar: Auch diese beiden Politiker spielen ihre eigenen Spiele. Das letzte Wort ist dabei noch nicht gefallen.

Gorbatschow ruft Strukturen zur Hilfe, die nicht mehr als legitim gelten dürfen — den Kongreß der Unionsvolksdeputierten und den Obersten Sowjet, bisher aber nicht die Armee. Gestern sprach Jelzin mit den Chefs der Militärbezirke. Derweil ziehen müde und besorgte Menschen durch die Moskauer Straßen — auf der Suche nach dem Nötigsten. Wenn man sie fragt, wie sie hoffen, in diesen schweren Zeiten zu überleben, antworten sie oft: „Das müssen wir überstehen“; „Hauptsache, man verliert nicht den Mut“; „Dann werden wir eben Zwieback machen. Was bleibt uns sonst übrig?“

Die Zeitungen scherzen wie nie zuvor, im Fernsehen wird gesungen und getanzt. Und auch im Staat, von dem man nicht mehr genau weiß, wie man ihn denn eigentlich nennen soll, geht das Leben weiter. Marina Pawlowa-Silwanskaja

Die Autorin ist Historikerin, Soziologin und Publizistin und arbeitet am „Bogomolow-Institut“ in Moskau, dem ehemaligen „Institut für die Wirtschaft des Sozialistischen Weltsystems“.