Hier findet die Kontrolle statt!

Eine Ausstellung zur Kultur- und Industriegeschichte des „Werktors“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden.  ■ Von Barbara Häusler

An der Ausstellung in ihrer jetzigen Form ist eigentlich der Golfkrieg schuld. Ursprünglich konzipierte das Berliner Büro West für das Siemens-Kulturprogramm eine Serie von Text- und Bildtafeln, die durch die verschiedenen Standorte des Konzerns wandern sollte. Schon im Vorfeld des Golfkriegs kommt es aber zu Attentatsdrohungen gegen die Kriegsmaterial liefernde Industrie. Die jetzt erforderlich werdenden Sicherheitsmaßnahmen lassen sich mit dem Öffentlichkeitsanspruch einer Ausstellung nicht vereinbaren. Sie wird folgerichtig abgesagt, weil eine wirksame „Kontrolle“ der Besucher nicht möglich ist.

Zwar ist der Golfkrieg längst vorbei, doch der Krieg hat viele Zeiten: Als politische Langzeitwirkung bleibt die Bedrohung durch einen möglichen Racheakt virulent. Noch mindestens ein Jahr. Sagt Siemens.

Schwelle zwischen Arbeit und Freizeit

So nimmt die Ausstellung in ihrer Entstehungsgeschichte eines ihrer zentralen Motive vorweg. Das Werktor ist nicht nur architektonischer Ausdruck eines wechselnden industriellen Selbstverständnisses und objektivierte Schwelle zwischen Arbeit und Freizeit. Seit seiner „Erfindung“ Mitte des 19. Jahrhunderts hat es vielmehr die zentrale Funktion einer Kontrollstelle, an der über Zugang und Passierendürfen entschieden wird.

Gleichzeitig ist es Arbeitsplatz und Ereignisort; es kann Stadtgeschichte schreiben und symbolischer Bedeutungsträger sein; es ist Bestandteil der Logistik der Arbeit und hat ein Davor und Dahinter.

Die Ausstellungsmacher Uwe Drepper und Georg Wasmuth haben diese Motive klug und unprätentiös in Szene gesetzt. Den Bild- und Texttafeln, die den historischen Funktions- und Bedeutungswandel des Werktors bis heute dokumentieren, haben sie Fundstücke aus der realen Welt hinzugefügt, die nicht nur illustrieren, sondern — wie beispielsweise die Selbstbedienungsbox der 'Bildzeitung‘ — neue Assoziationen freisetzen. Das Werktor wird zum Spiegel eines Stücks deutscher Industriegeschichte, die immer schon unmittelbar auch in unsere Alltagsgeschichte hineinwirkt, unser Bewußtsein mitprägt und mit unserem sozialen Leben eng verwoben ist.

Zum Beispiel die Zeit. Unsere Zeit. Beim Passieren des Tores wird sie enteignet, neu definiert, erfaßt und kontrolliert. Sie wird verinnerlicht als Arbeitszeit, deren Wächter in immer raffinierterer Weise automatisiert werden. Mit der Gemütlichkeit der ersten Zeiterfassungsuhr von 1852, die man problemlos in jedes Wohnzimmer hätte stellen können, haben die modernen Stechuhren oder Magnetlesegeräte nichts mehr gemeinsam.

Die Pause ist die zeitweise Entlassung aus der Arbeit. Noch in den zwanziger Jahren verlassen die Arbeiter mittags die Fabrik. Sie essen zu Hause, in umliegenden Gaststätten oder direkt am Tor, von fliegenden Händlern oder ihren Frauen aus mitgebrachten „Henkelmännern“ versorgt. Mit der Einrichtung von Werkskantinen verliert die Pause nicht nur diese räumliche, sondern auch eine soziale Dimension. Der Fürsorgegedanke der Kantine verbindet sich mit der Möglichkeit totaler Kontrolle auch dieser befristeten Entlassung aus der Arbeitszeit.

Formen der Kontrolle

Was macht diese kontrollierte Zeit mit den Menschen? Gibt es wirklich eine ablesbare Differenz in den Gesichtern von Menschen, die einmal am Morgen und am Abend, vor und nach der Arbeit, fotografiert werden?

Oder die Kontrolle und ihr Personal, der Pförtner und der Werkschutz. Die autoritätsstiftende Kraft der Uniformierung hat ihre Gültigkeit nie ganz verloren. Die Arbeitskluft des Betriebsschutzes der ehemaligen DDR unterscheidet sich nur durch einen Aufnäher von der der Volkspolizei. Die Kontrolle, früher nach außen gerichtet, hat sich durch die hochtechnisierte Abschottung heutiger Fabrikgelände nach innen verlagert. Neben Pünktlichkeit wird weniger überprüft, wer das Werksgelände betritt, als was einer herausträgt. Eigens zur Vermeidung vorprogrammierter sozialer Konflikte bei sporadischen Taschenkontrollen wird daher ein „Personalauslosungsapparat“ erfunden. Zufallsgeneratorgesteuert entscheidet ein grünes oder rotes Blinklicht darüber, wer gefilzt wird. Wie Elektriker beim Aufstellen der Maschine in Dresden jedoch herausfanden, ist sie mit einer Vorrichtung versehen, die Manipulationen ermöglicht und dem derart moralisch entlasteten Personal den direkten Zugriff auf die Kollegen gestattet.

Oder der Streik. Er beginnt am Werktor, dem zentralen Ort des Arbeitskampfes. Anstatt es routiniert zu durchschreiten, wird es aktiv geschlossen. Es wird Sammelplatz, Informationsbörse und öffentliche Metapher des Protests. Seine Embleme werden auf Transparenten lächerlich gemacht oder, wie im heißen Winter 1987/88 bei Krupp, ganz demontiert.

Das Werktor als Bedeutungsträger

Die täglichen Menschenströme und die streikende Menge stellen verschiedene Aggregatzustände des „Ornaments der Masse“ dar, dessen Stilisierung in der bildenden Kunst und im Film ebenso betrieben wird wie im Arbeitskampf selbst. Auf Streik- und Demonstrationsplakaten und beispielhaft in Werken naturalistischer oder realsozialistischer Prägung suggerieren sie ein „Zeichen idealer menschlicher Solidarität“. Kritisch bedient sich Fritz Lang dieses Motivs in Metropolis (1925/26): Der Schichtwechsel am Werktor wird zum Ausdruck der Fabrik als Moloch. Sechs Jahre später flieht Peter Lorre als Mörder M. in die Fabrik, die (s)eine Falle ist: das Werktor wird nachts geschlossen. Eine ähnliche Akzentverschiebung zeigt sich auch in der übrigen Filmgeschichte: Das Motiv des Werktors entwickelt sich weg vom dramatischen Zentrum des Films zu einem rein atmosphärischen Element.

Dieser „Bedeutungsverlust“, den gerade das Medium Film vielleicht am unmittelbarsten umsetzt, hat Gründe, die sich beispielhaft auch in der Architekturgeschichte des Werktors, seiner materiellen Gestalt, ablesen lassen.

Die historistischen Anleihen, die in seiner Entstehungsphase prägend sind, decken sich mit dem herrschenden Geschmack. Das Werktor ist nichts anderes als die ins Gigantische gesteigerte Friedhofsarchitektur seiner Zeit. Die Zitate von Tempeln, Burgen und Schlössern mit ihren Säulen, Zinnen und Türmchen dienen nicht nur der Repräsentation, sondern symbolisieren auch das paternalistische Verhältnis des Fabrikanten zu seinen Arbeitern.

Mit der Moderne, unter dem ungläubigen Schock der Inflation, versachlicht die Architektur das Tor zu einem Teil der Werksanlage. Ihre ästhetische Utopie ist die funktionierende Fabrikmaschine.

In Zeiten der „Sozialpartnerschaft“ mit einer relativen Demokratisierung der Arbeitswelt ist eine allzu forcierte Repräsentativität des Werktors vollends fragwürdig geworden. Die sich ausbreitende Gestaltungsunwilligkeit markiert die Unsicherheit der Bauherren ebenso wie das Mißtrauen der Arbeiter gegenüber dem symbolischen Gehalt seiner Architektur.

Bedeutungsschwund

Die Unterschiedslosigkeit der Industrieviertel und der Verzicht auf eine klare architektonische Zäsur stellen für den Ausstellungsmacher Uwe Drepper und sein Team einen Verlust dar. Es ist schwer zu entscheiden, ob die dahinterliegende Frage nostalgisch oder legitim ist: Brauchen wir diese Rekonstruktion einer Schwelle, die uns beim Überschreiten nicht einfach der Grenze beraubt, um zu wissen, wo wir sind? Der Dienstleistungssektor jedenfalls, der wirtschaftsgeschichtlich das Erbe der Industriekonzerne angetreten hat, gibt sich mit Toren nicht mehr zufrieden. Die schon im Werktor grob angelegte Idee einer corporate identity wird hier zur Firmenstrategie verfeinert und verlangt nach ganz anderen Symbolen: dem Hochhaus, das als markantes Zeichen die ganze Stadt überragt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 26. April 1992 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1, zu sehen. Der Katalog Das Werktor. Architektur der Grenze. , hrsg. von Uwe Drepper, ist bei Prestel erschienen und kostet 34 DM