„Coming -out“

Schwule in der Ex-Sowjetunion  ■ VON MECHTHILD HENNEKE

Vorsicht. Die Türen schließen, nächster Bahnhof Dserschinskaja.“ Noch wäre Zeit, in die U-Bahn zu springen, doch der junge Mann mit Aktenkoffer und Leninbärtchen bleibt auf dem Bahnsteig stehen. Er blickt unsicher durch dicke Brillengläser in die nüchterne Stationshalle. Dann geht er plötzlich los, verlangsamt schon nach wenigen Metern seinen Schritt, schüttelt einem Mann in Jeansjacke noch gehend die Hand und schlendert gemeinsam mit ihm weiter. Moskau, Marx-Prospekt, Freitag abend, Dutzende von Metern unter der Erde: die Schwulenszene trifft sich zum Stelldichein zwischen dröhnenden Zügen, Stadtplan-bewaffneten Touristen und Milizpatrouillen in Grau.

Andrej Fokin ist 26 Jahre alt und war schon lange nicht mehr hier. Nachdenklich beobachten er und sein Freund Viktor das Paar, das gerade das Ende des Gangs erreicht und zur nächsten Runde kehrtmacht. „Es gibt für Schwule keine Cafés, keine Treffs, außer öffentlichen Toiletten, Saunen und der Straße“, sagt Andrej und weiter: „Um in diesem Land nicht Alkoholiker, Mörder oder Selbstmörder zu werden, mußt du schon echt stark sein.“

In der Ex-Sowjetunion, wo Homosexualität von der Gesellschaft einhellig als Krankheit und Perversion geächtet wird, wo die Strafgesetzbehörden aller fünfzehn ehemaligen Republiken „Mannlager“, den Beischlaf zwischen Männern, mit bis zu fünf Jahren Haft bestrafen, haben Schwule nur dünne Luft zum Atmen. Paradoxerweise nehmen die Versuche, ein „Coming-out“ vorzubereiten, gerade jetzt zu, wo das Scheitern von Glasnost und Perestroika schon kein Fragezeichen mehr braucht. Niemand vermag heute zu sagen, ob die faktische Anarchie in einen Bürgerkrieg mündet und dennoch: Seit dem letzten Jahr gründen Schwule und Lesben gemeinsam in Rußland und im Baltikum kleine Vereinigungen zur Verteidigung der Rechte Homosexueller und kämpfen um deren offizielle Anerkennung.

So gibt es in Moskau und Leningrad gleich je zwei Organisationen, eine weitere in Riga (Lettland) und in Tallinn (Estland). Von den Behörden zugelassen wurde noch keine von ihnen. Der Grund war so banal wie brutal: Solange im Strafgesetzbuch der Artikel über das Verbot des „Mannlagers“ existiert, kann eine Organisation zur Verteidigung der Rechte Homosexueller, und damit zur Beseitigung des Artikels, nicht offiziell registriert werden.

„Der Weg ist schwierig und lang, aber ich bin sicher, wir werden uns durchsetzen. Der „Mannlager-Paragraph wurde bereits seit einigen Jahren nicht mehr angewandt, als Bedrohung wirkt er aber natürlich weiter“, sagt der 37jährige Wladislaw Ortanow, der in Moskau um die offizielle Anerkennung der Gruppe „K9“ kämpft. „Nach dem gewaltsamen Tod zweier schwuler Freunde habe ich meine jahrelange Angst überwunden“, erzählt er, „ich konnte nicht mehr länger zuschauen, wie Tag für Tag Menschen zugrunde gehen, nur weil sie nicht so sind wie alle anderen.“ Heute gibt der Diplombiologe gemeinsam mit einer Handvoll Gleichgesinnten bereits die Zeitschrift 'Risk‘ heraus. „Noch haben wir erst eine einzige Nummer gemacht, genau 999 Hefte: die Menge, die keiner Registrierung bei den Behörden bedarf“, berichtet er. Seit dem Erscheinen von 'Risk‘ erhält die kleine Redaktion jeden Tag Dutzende von Leserbriefen: Hilferufe, Bitten um die Vermittlung von Briefkontakten, Angebote zur Mitarbeit. „Ich weiß, daß es nötig ist zu kämpfen“, schreibt der 19jährige Igor aus Moskau, „aber allein kann ich es nicht.“

Der schwule Publizist Iwan Paukow zweifelt daran: „Die allgemeine Krise hat zu solch starken Spannungen innerhalb der sowjetischen Gesellschaft geführt, daß die „soziale Geduld“ der Menschen heute an ihren Grenzen angelangt ist. Für ein „Coming-out“ ist jetzt eigentlich nicht der Moment“, erklärt er: „Es gibt dennoch einen wichtigen Grund, warum es unbedingt stattfinden muß: Aids.“

Noch liegen keine gesicherten Statistiken über die Zahl der Infizierten in der UdSSR vor. Der Vorsitzende der Gesellschaft der ehemaligen Sowjetunion „Kampf gegen Aids“, Wadim Pokrowskij, behauptete in der Monatszeitschrift 'Moskow Magazine‘, daß bislang 565 Menschen in der Ex-UdSSR HIV- positiv getestet wurden. Inoffizielle Ziffern liegen weit höher: Moskauer Anti-Aids-Initiativen gehen davon aus, daß bereits rund 10.000 Ex- Sowjetbürger positiv diagnostiziert sind. Für das Jahr 1995 vermutet allerdings auch Pokrowskij eine Zahl von etwa 100.000 infizierten Menschen und rund 5.000 voll entwickelten Krankheitsbildern.

Alle Bemühungen, die sowjetischen Gesundheitsbehörden zu einem offensiveren Verhalten bei der Bekämpfung von Aids zu bewegen, sind bislang im Sande verlaufen oder wurden sogar boykottiert. Zwei Eingaben des engagierten Anti-Aids- Kämpfers Igor Jesjukow beim ehemaligen sowjetischen Gesundheitsministerium über die Ursachen von Aids und über „Safer Sex“ wurden zum Beispiel als „pornographisch“ zurückgewiesen, da sie Ausführungen zu oralem und analem Geschlechtsverkehr enthielten. Neben mangelnder Aufklärung trägt auch die miserable Qualität sowjetischer Kondome zu wenig Lust am „Safer Sex“ bei: Sie sind oft so dick, daß jedes Gefühl erstirbt, außerdem reißen sie schnell.

Kein Wunder, daß die Befürchtungen für eine Ausbreitung der Krankheit hoch sind. Solange der gesellschaftliche Druck „Straßenkontakte“ zur wichtigsten Form schwuler Kommunikation macht, kann sich daran nichts ändern. Diese bergen über das Risiko von Aids hinaus noch eine weitere Gefahr, der die Gays schutzlos ausgeliefert sind: Raubüberfälle, oft sogar Mord.

Ortanow erzählt von Straßengangs, die vor Schwulentreffpunkten Männern auflauern, um sie auszurauben. „Der Weg zur Miliz ist den Opfern verschlossen“, sagt Ortanow leise, „da sie stundenlange Verhöre über ihr Privatleben und Verfolgung wegen ,Mannlagers‘ befürchten müssen.“ Seine beiden Freunde wurden von ihren Sexualpartnern ausgeraubt und ermordet.

Ortanow hat sicher recht, wenn er sagt, daß die Situation im Moment so schwer sei, daß man eine Menge Enthusiasmus brauche. Er sieht den Weg für eine Befreiung der sowjetischen Homosexuellen im Rahmen der Gesetze. „Der Skandalismus von Roman Kalinin schadet viel“, erklärt er. Der 25jährige Kalinin hatte im letzten Jahr das Thema „Homosexualität“ in die ehemaligen sowjetischen Medien gebracht und anschließend immer wieder durch spektakuläre Interviews im Stil „Warum ich nicht mit Michail Sergejewitsch (Gorbatschow) schlafen würde“, auf sich aufmerksam gemacht. „Wir fühlen uns vor der Gesellschaft verantwortlich, weil wir ihre Loyalität brauchen“, meint demgegenüber Ortanow.

Ein Wandel in der Einstellung zur Homosexualität kann nur ein langwieriger Prozeß sein. Der jahrzehntelange Konformismus von Schwulen und Lesben, Heirat und Kinder eingeschlossen, hat auf jeden Fall ausgedient. Noch sitzen Angst und Ablehnung tief im Bewußtsein. Die Mutter des 28jährigen Viktor Monastirskij rief sofort die Miliz, als ihr Sohn ihr erklärte, daß er schwul ist. Die drehte sich jedoch achselzuckend auf dem Absatz um, als sie den Grund für ihr Kommen erfuhr. Nach monatelangem Schweigen hat Viktor jetzt seine Eltern überreden können, mit ihm in die neugegründete Moskauer Schwulen- und Lesben-Beratungsstelle zu gehen.

„Vielleicht können meine Eltern mit Hilfe eines Psychologen lernen zu akzeptieren, daß ich kein ,naturalnij‘ (russisch: hetero) bin“, hofft er. Er sitzt neben Andrej auf der Marmorbank in der U-Bahnstation „Marx-Prospekt“ und sagt, er wünsche sich nichts mehr als irgendwann mit seinem Freund frei und unbehelligt zusammenleben zu können. Unter der Erde fahren die Züge weiter dröhnend in Moskaus Norden und Süden, am Wochenende schlendern dort weiter unauffällig Männer nebeneinander her.