Die Bergung des Eismanns — eine Provinzposse

Die Entdeckung und Bergung des Eismannes im vergangenen September am 3.200 Meter hoch gelegenen Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen war nicht nur eine archäologische Weltsensation sondern auch eine echte Tiroler Provinzposse. Der Innsbrucker Archäologe Konrad Spindler erzählte am vergangenen Donnerstag in Berlin vor 700 atemlos lauschenden Zuhörern erstmals in einem Diavortrag die wahre Geschichte des Jahrhundertfunds.

Am Donnerstag, den 19. Sepember 1991 — kein Wölkchen trübte den Himmel — stieg das Nürnberger Ehepaar Helmut und Erika Simon von der Fineilspitze abseits des markierten Bergsteigerpfades in Richtung Similaunhütte ab. Sie kamen zu einer Felsenwanne, die mit einem Restgletscher und Schmelzwasser gefüllt war, und sahen plötzlich etwas aus dem Eis ragen. Beim zweiten Blick wurde ihnen klar, daß der Gegenstand keine Puppe, sondern der Kopf und die Schulter eines eingefrorenen Menschen war. Einen halben Meter vom Kopf entfernt lag ein Birkenrindengefäß und ein blauer Skiclip. Aus dem Clip, der vor langer Zeit Mode war, schlossen die Simons, daß der Tote 10 bis 20 Jahre im Eis gelegen haben müsse. Die Eheleute eilten zur Similaunhütte und berichteten dem Wirt Markus Pirparmer von der gruseligen Entdeckung. Aufgrund der unklaren Grenzlage informierte Pirparmer vorsichtshalber erst einmal die italienischen Carabiniere in Schnalz und die österreichische Gendarmerie in Sölden. Die Italiener winkten sofort ab. So geriet die Angelegenheit in die Obhut des österreichischen Staates. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kraxelte Markus Pirparmer mit seinem Küchengehifen selbst zum Hauslabjoch hinauf und bemerkte dort mehrere Meter neben dem Kopf des Toten ein Beil, mehrere Bretter, die er für die Rest von Schneeschuhen hielt, sowie Rundhölzer und vermeintliches Gamshaar.

Am nächsten Tag, Freitag, setzte der Gendarm und Leiter der alpinen Einsatztruppe, Anton Kohler, zusammen mit zwei Helfern mit einem Hubschrauber am Hauslabjoch zur Bergung des Toten an. Zwischenzeitliche Ermittlungen hatten ergeben, daß der Veroneser Musikprofessor Capsoni 1938 auf dem Weg zur Similaunhütte abhanden gekommen war. Damit war der Fall für die Lokalzeitungen klar: Der Tote mußte Capsoni sein. Kohler und seinen Leuten gelang es an diesem Tag jedoch lediglich, den Leichnam bis zur Hüfte freizulegen. Weil ihnen die Preßluft ausging und schlecht Wetter drohte, kehrten sie unverrichteter Dinge ins Tal nach Vent zürück. Dort wartete der Bestattungsunternehmer Anton Klocker, der von der Gendamerie den Auftrag erhalten hatte, einen Herrn Capsoni abzuholen. Die Rettungsmannschaft belehrte ihn eines Besseren: Der Tote sehe so aus, als ruhe er schon seit dem 19. Jahrhundert im Eis, und könne demnach unmöglich der Veroneser Musikprofessor sein. Vorsichtshalber informierte man den Staatsanwalt.

Am Samstag meldeten die Lokalzeitungen, die Gletscherleiche vom Hauslabjoch sei sehr alt und immer noch nicht identifiziert. An diesem Tag war kein Hubschrauber für die Bergung frei. Am Nachmittag bekamen der Extrembergsteiger Reinhold Messner und seine Kameraden sowie das Ehepaar Heid beim Lammbraten in der Similaunhütte zufällig von der Geschichte Wind. Man beschloß, sich die Sache anzusehen. Für Messner stand sofort fest, daß der Mann im Eis mindestens 500, wenn nicht 3.000 Jahre alt sein müsse. Sein Begleiter riß dem Toten ein Stück vom Lederbeinkleid ab. Wer das Birkenrindengefäß zertrat, ist bis heute unklar. Am Abend informierte Messners Manager die Zeitungen, nachdem man sich auf ein Alter von 500 Jahren für den Toten geeinigt hatte. Am Sonntag war wieder kein Hubschrauber frei.

Der bis dahin vollkommen ahnungslose Archäologieprofessor Konrad Spindler erfuhr erst am Montag in Innsbruck bei der Frühstückslektüre von dem merkwürdigen Fund. Er setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um bei der Bergung dabei zu sein, aber im Hubschrauber war kein Platz für ihn frei. Diesmal hatten Kohler und seine Helfer überhaupt keine Geräte dabei, um die Leiche aus dem Eis zu befreien. Zum Glück kam jedoch ein Bergwanderer mit einem Skistock vorbei, der zum Grabwerkzeug umfunktioniert wurde. Endlich war es soweit: Der Körper und die darumliegenden Gegenstände wurden in einen Plastiksack gepackt, an den Hubschrauber gehängt und ins Tal geflogen. Dort wartete der Bestattungsunternehmer Klocker schon mit geöffnetem Sarg, um den Toten in seinem Leichenwagen ins gerichtsmedizinische Institut nach Innsbruck zu bringen.

Hier bekam Konrad Spindler den Eismann am Dienstagmorgen zum ersten Mal zu Gesicht. Der Archäologe erkannte mit einem Blick, daß der Tote mindestens 4.000 Jahre alt sein und aus der frühen Bronzezeit stammen müsse. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer um die Welt. Prompt erhoben die Italiener Ansprüche auf den Fund. Zu Recht, wie das Ergebnis einer in die Berge entsandten Grenzvermessungskommission zeigte: Der Eismann lag 92,56 Meter auf italienischem Staatsgebiet. Das Innsbrucker Archäologen- Team, das die Fundstelle in den Bergen derweil gründlichst untersuchte und dabei noch einen Lederköcher mit 14 Pfeilen ausgrub, schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Köcher vor den plötzlich aus dem Nebel auftauchenden Carabiniere in einem Rucksack zu verstecken. Daß einzige, was für die Wachposten übrig blieb, waren ein paar Lederstückchen, die jetzt in Bozen wegen unsachgemäßer Lagerung zu verrotten drohen, weil Rom die Ausfuhr nach Innsbruck verweigert.

Der 1,60 Meter große Eismann, der 25 bis 35 Jahre alt war, als er vor Tausenden von Jahren in der Felsenwanne am Hauslabjoch Schutz suchte bevor er vermutlich an Unterkühlung starb, gibt den Wissenschaftlern viele Rätsel auf. War der Wanderer als Jäger durchs Gebirge gestreift, als Prospektor auf der Suche nach Erzen oder war er von seinem Stamm verstoßen worden? Auch wenn viele Fragen wohl nie beantwortet werden können, hoffen die Forscher, der Mumie bei der Obduktion, durch Magen- und DNS-Analyse noch so manches Geheimnis entreißen zu können. Einstweilen ruht der Tote, der nur deshalb so wunderbar erhalten ist, weil er von den trockenen Föhnwinden mumifiziert wurde bevor der erste Schnee fiel und er vom Eis umschlossen wurde, noch unangetastet bei Minus 6 Grad unter Gletscherbedingungen in einem Kühlschrank, um ihn vor dem zerstörerischen Pilzbefall zu schützen.

Seine Bekleidung und Ausrüstung wird derweil im Römisch-Germanischen Zentralinstitut in Mainz restauriert: Die Schuhe aus Fell, die innen mit Heu gepolstert und außen mit Schnüren aus Gräsern umwickelt waren, und das mit feinen Lederriemchen vermutlich von Frauenhänden sorgfältig zusammengenähte Fellgewand. Desgleichen das hölzerne Tragegerüst, das Beil, das steinerne Messer, die Feuersteinschläger, die Steinperle, der Köcher mit den 14 Pfeilen und ein Teil des Bogens, der bei der Bergung abgebrochen ist. Die zweite Hälfte steckt noch hoch droben im Eis. Im Köcher, der am kommenden Donnerstag in Mainz im Beisein zahlreicher Wissenschaftler aus aller Welt erstmals entleert werden soll, wird noch so manche Überraschung vermutet.

Für die archäologische Datierung am wichtigsten ist aber das Beil: Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, daß die in eine Holzschäftung eingesetzte Klinge keineswegs, wie angenommen, aus Bronze, sondern zu 99 Prozent aus Kupfer besteht. Auf ein höheres Alter als ursprünglich vermutet weisen auch die in Uppsala und Paris vorgenommenen Untersuchungen von Gräserproben hin. Wenn das Ergebnis durch die weitere Auswertung bestätigt wird, hat der Eismann bereits vor 4.600 bis 4.800 Jahren am Ende der Jungsteinzeit gelebt. Plutonia Plarre