Meisterschaft und ihre Verhöhnung

Der Maler Gerhard Richter in der Tate Gallery, London  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es gehört zu den Risiken gegenständlicher Kunst, daß die Wirklichkeit sie bisweilen stört. So mußte Anselm Kiefer im Frühjahr beteuern, daß die in seiner großen Retrospektive gezeigten Flugzeuge aus Blei schon vor dem Golfkrieg entstanden seien. Jetzt wird an gleicher Stelle — in der Neuen Nationalgalerie, wo Kiefer seinen Einbruch erlebte — Otto Dix gezeigt, das Musterbeispiel des Malers, der, von allegorischen Phantasien geblendet, den Angriff der Wirklichkeit auf die Malerei verschläft.

Man muß nach London fahren, um eine knappe, aber hervorragend konzipierte Retrospektive des bisherigen Werks des Malers Gerhard Richter sehen zu können. Ein Maler, der wohl als der „wichtigste lebende deutsche“ zu sehen ist, wenn man die Komplexität des Werks, nicht aber den lautstarken Auftritt oder das Getöne des Kunstmarkts zur Grundlage macht.

Richters Weg zur Meisterschaft hat nichts von olympischem Ehrgeiz; sein Weg ist, im Gegenteil, von vornherein paradox angelegt, von Zweifeln nie ganz zerrieben, aber durchsetzt. Er ist zweimal Mal-Schüler gewesen, in Dresden von 1951 bis 1956 und in Düsseldorf von 1961 bis 1963. Der Zweifel am Erkennbaren, den Baselitz so brachial methodisiert hat, indem er seine Figuren auf den Kopf stellte, ist in Gerhard Richters Werk in Einzelschritten, Pirouetten bisweilen, ausgetragen.

Popart ist vielleicht das Musterbeispiel im zwanzigsten Jahrhundert dafür, wie Künstler (Warhol, Lichtenstein, Jones) eine Krise gezielt inszeniert haben, um als Helden von ihr zu profitieren, ohne sie zu überwinden. In der großen Ausstellung zur Popart, die in London parallel zur Richter-Retro zu sehen ist (demnächst in Köln), findet man auch drei Bilder von Richter, seinen Faltbaren Trockner zum Beispiel. Krude konfrontiert der Maler den Betrachter mit seiner schnöden Sicht auf schnöde Dinge, die Welt der Prospekte als verstellte Aussicht. Im Kontext der Popart, deren großmeisterlicher Dilettantismus schreiend ist, wenn man die Werke aus dem Krach ihrer Zeit löst und in einem Zoo namens Royal Academy of Arts zur Schau stellt, ist Richters Eigensinn noch nicht zu erkennen.

Umso deutlicher in der Tate Gallery, wo das erste Bild der Retrospektive einen eher grob skizzierten Tisch (1962) zeigt, dessen Form durch eine tiefgraue Übermalung — kreisförmige Schlieren — ausgelöscht wird. Die Übermalung verhält sich zur Flucht, die mit der hellen Tischplatte dargestellt wird, schwebend, so daß die Oberfläche des Ölbilds als Bildträger in Erscheinung tritt; wie auf einer zerkratzten Fotografie oder einem beschlagenen Spiegel.

Das doppelte Wesen der Fotografie — die Magie dort, das Lapidare hier — hat Richter offensichtlich von Anfang an interessiert. Das zeigt sich in einigen Stadtansichten, die wie aus einem Auto (oder Flugzeug) heraus fotografiert erscheinen; das Verwaltungsgebäude (1964) gewissermaßen als Antithese zu de Chiricos Magie des Lichts im Stadtraum, als materialistischer Anschlag auf malerische Metaphysik. Keiner weiß mehr.

Aber dann hat sich Richter doch ans Licht gewagt, und mit diesem Wagnis hat er sich von seinen Zeitgenossen, die sich großteils dreist bei der Werbegrafik bedient haben, entfernt. Keine Rettung in der Metaphorisierung von Schablonen. Richter hat sich auch nicht an die Regel Goethes an die nach ihm kommenden Fotografen gehalten, daß man besser dorthin sehe, wo das Licht hinfällt, als in das Licht hinein. 1971 — Richter ist mit nicht einmal vierzig Jahren in Düsseldorf Akademieprofessor geworden — malt er das fünfteilige Parkstück in grober, akademischer Manier; aber der grobe Auftrag hat nichts von expressionistischem Elan. Ja, er funktioniert eigentlich nicht viel anders als das stark vergrößerte Raster bei Roy Lichtenstein: steht man nah beim Bild, drängt sich seine Machart auf; tritt man zurück, schließt es sich. Aus der Nähe gesehen ist das „Licht“ im Park nichts als ein weißlicher pastoser Auftrag, bei größerer Entfernung entfaltet das melancholische Setting seine Suggestion. Das wäre vielleicht nicht so verwunderlich, gäbe es nicht diese Mitteldistanz (die durch die Größe des Bildes im Verhältnis zum Raum bestimmt wird), wo beides, das technische Kalkül des Auftrags und die Wirkung der Sinnestäuschung, zusammenfallen. So kann der Betrachter nicht auf die Idee kommen, die Malerei wäre ein Handwerk des Sentiments. Daß die Fotografie in diesem Punkt die Malerei beerbt hat, ist gerade durch Richters Werk erst deutlich geworden.

Informel ist Täuschung

Während die meisten der Popart- Künstler dann ihre Motive und Ikonographien zementieren, gibt sich Richter einem Zweifel hin, der fast, aber nur fast sein eigenes Werk erreicht. Natürlich haben seine grauen Bilder, die sich gegen Mitte der siebziger Jahre zur Perfektion schließen, etwas von der bereits angebrochenen bleiernen Zeit; aber sie erzählen auch etwas von der eisernen Disziplin des Malers. In London hängen zwei graue Bilder (sehr unterschiedlicher Machart, übrigens) Rücken an Rücken mit den 1.024 Farben, einem gigantischen Tableau, daß eben diese 1.024 Farben mit der Akribie des Malerladens und mit der unruhigen Ordnung des Fernsehtestbilds präsentiert.

Es wird immer wieder behauptet, Richters Werk zerfalle in einen konkreten und einen abstrakten Teil; der borniert systematische wäre gewiß ein dritter. Dazu gehören auch die 48 Portraits, die Richter den Enzyklopädien entnommen und auf seine Weise gemalt hat. In der Tate Gallery sind die Portraits wiederum als Fotografien zu sehen (Reproduktionen der Richterschen Gemälde) — eins der wenigen Werke des Malers, das sich überhaupt fotografisch repräsentieren läßt, ohne sein Eigenstes zu verlieren.

Mit der „Zweiteilung“ des Werks wird ein „Rätsel“ aufgebaut, das die Werkbeschreibung erleichtert, aber Richters treibendes Erkenntnisinteresse nicht zur Sprache bringt. Richter interessiert sich offensichtlich nicht (auf der einen Seite) für die „Dinge“ und (auf der anderen Seite) für den deregulierten „Ausdruck“. Das wird an der Stelle deutlich, wo Richter seine eigene „abstrakte“ Arbeit seiner „fotografischen“ Ikonographie unterwirft: ein kleinformatiges Abstraktes Bild (Ölskizze)erscheint in einem sehr viel größeren Abstrakten Bild (beide 1978) als Vergrößerung, mit den typischen „fotografischen“ Unschärfen, wie man sie von Richters Portraits, Landschaften und Akten kennt. Offensichtlich ist die Skizze fotografiert worden; Grundlage des großen Bildes war, wie der äußerst informative Begleittext der Ausstellung verrät, eine Diaprojektion. Ein gelber Fleck in der müde farbigen Skizze erscheint im großen Bild als Sonne, die von hinten durch einen Schilfdschungel fällt. Da ist es wieder, das Licht, das offensichtlich im Technischen zu Hause ist. Was dem Betrachter flirrend entgegenkommt, ist wieder Produkt eines Kalküls, das informelle Sentiment des Schilfdschungel-Bilds ist Täuschung. Die Meisterschaft probiert ihre Verhöhnung.

Der Zyklus 18. Oktober 1977, der in London nicht zu sehen ist, ist an dieser Stelle imaginär einzufügen. Denn der RAF-Zyklus zementiert einen Zweifel, der an Verzweiflung grenzt und spezifisch westdeutsch ist. Richters innere Lebensuhr muß schon sehr präzise laufen, daß er diese Bilder ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer das erste Mal zeigte (und die Zeitungen mit einem Reproduktionsverbot belegte). Es gibt Dinge, die nur noch die Malerei sagen kann; daß dies eine Malerei jenseits der Fotografie sein muß, ist seit Manet zu ahnen und war für Picasso und Kandinsky Gewißheit. Richter hat sich auf dem gesicherten Terrain nicht ausgeruht, sondern die Malerei und ihre Mächte bestätigt, indem er sie ohne (die) Koketterie (der Fotorealisten) in den Grenzbereich, wo sie illegitim zu werden droht, zurückgeführt hat. Dieses Risiko einzugehen, ist sein Stil.

Richters Eigensinn

So als hätte er eine Erinnerung zurückgehalten, erscheinen die grellen, so eben nicht giftigen (Münchner) Olympiafarben Otl Aichers in Richters großformatigen Gemälden um 1985. Diese Bilder, kühne Konstruktionen, sind vielleicht das am ehesten Pittoreske an Richters Werk. Die Heiterkeit am Ende eines Arbeitslebens.

Dachte man. Dann folgt eine gewaltige Gruppe gewaltiger Gemälde, die nicht eigentlich gemalt, sondern gewissermaßen geschürft sind: geschmolzene digitale Codes; Nachrichten von unter der Eisdecke eines Sees; Bilder eines ungeheuren Regens von der tödlichen Art. Malerisch sind die meisten dieser Bilder aus den letzten beiden Jahren der Triumph einer geglückten Durchdringung. So hätte man am Bauhaus gesagt, vielleicht.

Die vorerst letzte Wendung zeigt nochmals Richters Eigensinn, seine Besessenheit von methodischen Fragen. Man sieht nicht viel mehr als ein gehängtes Glas, in dessen monochromer Farbigkeit der Betrachter sich flüchtig selbst erkennt. Das Bild heißt Spiegel Bild, und die Angabe zum Material lautet „pigment on glass“. Offensichtlich ist das Pigment zwischen zwei Glasflächen eingeschlossen. Hier endet der Rundgang. Aber gewiß nicht die Malerei.

Gerhard Richter. Tate Gallery, London. Bis zum 12. Januar 1992.