Gorbatschow gibt sich neue Aufgaben

■ Schewardnadse riet dem Präsidenten vom Rücktritt ab/ Reformergruppe um den sowjetischen Außenminister kritisiert Politik Jelzins/ In Moldawien herrscht gespannte Ruhe

Moskau (ap/taz) — Er gibt nicht auf, obwohl seiner politischen Rolle der Boden immer mehr entzogen wird. Ungeachtet der jüngsten Rückschläge präsentierte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow am Wochenende nicht etwa sein Rücktrittsschreiben, sondern eine neue Arbeitsplatzbeschreibung für sein Amt: Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte will er dafür sorgen, daß die Kontrolle über die Atomwaffen gewahrt bleibt, als Präsident möchte er eine Vermittlerrolle in der neuen Gemeinschaft unabhängiger Staaten spielen — jenem Dreierbund zwischen Rußland, Weißrußland und der Ukraine, dem sich inzwischen auch fünf zentralasiatische Republiken angeschlossen haben und der Gorbatschow faktisch zu einem Präsidenten ohne Land gemacht hat. Allerdings, so erklärte Gorbatschow dem US-Nachrichtenmagazin 'Time‘, wolle er „nicht die Rolle eines Ehrengastes bei einem Bankett spielen“, sondern „bei der Erarbeitung des Rahmens der Gemeinschaft mitarbeiten und ihr Substanz geben“.

Die künftige Rolle des Präsidenten

Die künftige Rolle von Michail Gorbatschow könnte am kommenden Samstag auf der Konferenz von Alma Ata definiert werden. Diese Erwartung sprach am Samstag der Präsident Kirgisiens, Askar Akajew, aus, dessen Republik wie die vier anderen zentralasiatischen Republiken dem Minsker Abkommen beitreten will. Voraussetzung sei, daß Gorbatschow von dem Abkommen über die neue Staatengemeinschaft „die wichtigsten Punkte akzeptiert“, wurde Akajew von der Nachrichtenagentur 'Tass‘ zitiert. Die Präsidenten der drei slawischen sowie der fünf zentralasiatischen Republiken wollen am 21. Dezember in der kasachischen Hauptstadt Alma Ata zusammenkommen, um über den Beitritt zum Dreierbund zu beraten. Unverhohlen wütend zeigte sich Gorbatschow über das Verhalten des russischen Präsidenten Boris Jelzin, weil dieser ihn nicht vorab von der Gründung der neuen Staatengemeinschaft unterrichtet hatte: „Er rief mich nicht einmal an. Später fand ich heraus, daß er mit George Bush und nicht mit mir gesprochen hatte. Es war nicht notwendig, Bush da hineinzuziehen. Ich kann diese Art von Verhalten nicht billigen oder rechtfertigen. Es ist unzulässig.“

Immerhin kann sich Gorbatschow in Zukunft beim US-Präsidenten über die jüngsten Aktionen von Boris Jelzin erkundigen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur 'Tass‘ vereinbarten Gorbatschow und Bush bei einem Telefongespräch am Freitag, regelmäßig Kontakt zu halten sowie Informationen und Meinungen auszutauschen, wie es die Entwicklung der Lage erfordere. Bush hatte sich sowohl von Gorbatschow als auch von Jelzin versichern lassen, daß die Sicherheit der Atomwaffen auf dem Territorium der bisherigen UdSSR gewährleistet sei.

Den US-Journalisten von 'Time‘ diktierte Gorbatschow auch gleich seine Verärgerung über die Bush- Administration ins Blatt. Deren Reaktion auf die jüngsten Veränderungen in der Sowjetunion bezeichnete er als voreilig — vor allem die Erklärung von US-Außenminister Baker, daß die Sowjetunion nicht mehr existiere. „Während wir noch versuchen, die Entwicklung abzusehen“, sagte Gorbatschow, „scheinen die USA schon alles zu wissen.“

Baker, der gestern zu einem mehrtägigen Besuch in der Sowjetunion eintraf, bedauerte noch im Flugzeug die Kritik, die Gorbatschow an ihm geübt hat: „Ich denke, niemand hat Präsident Gorbatschow und seine Regierung und das, was sie getan haben, mehr unterstützt, als ich dies in den Gremien der US-Regierung und anderswo getan habe.“

Schewardnadse riet vom rücktritt ab

Baker will in den Hauptstädten Rußlands, der Ukraine, Weißrußlands, Kasachstans und Kirgisiens angesichts des Zerfalls der Sowjetunion die Besorgnis der US-Regierung über die Zukunft der in diesen Republiken stationierten Atomwaffen vortragen. Zweites Ziel der Reise ist die Erörterung von Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung angesichts der schlechten Versorgungslage in diesem Winter.

Mit ausschlaggebend für das Ausharren des sowjetischen Präsidenten dürfte der Rat seines Außenministers Schewardnadse gewesen sein, der Gorbatschow empfohlen hatte, „sich mit einem Rücktritt nicht zu beeilen“, wie er am Rande des Gründungskongresses der von ihm ins Leben gerufenen „Bewegung für demokratische Reformen“ erklärte.

Auf dem Kongreß selbst wurde am Samstag mit Kritik an der Politik Boris Jelzins nicht gespart. Insbesondere der von Jelzin ausgehandelte Dreier-Staatenbund sowie seine Pläne zur Wirtschaftsreform gerieten unter Beschuß. Während sich Jelzin in einem am Samstag veröffentlichten Zeitungsinterview zu der Behauptung verstieg, in einem Jahr sei mit einem Aufschwung der russischen Wirtschaft zu rechnen, wandte sich sein Vizepräsident Alexander Rutskoi auf dem Kongreß erneut gegen eine Freigabe der Preise in der Russischen Föderation, die seiner Meinung nach soziale Ausschreitungen zur Folge haben könnten.

Ebenso wie der ehemalige Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew und der Moskauer Bürgermeister Gawriil Popow drückte Rutskoi sein Erstaunen über den Dreierbund aus. Das Abkommen sei „ein weiterer Schritt, um die Völker auf einer neuen Grundlage zu einigen“, sagte Rutskoi. Der Staatenbund werde jedoch von den Regierungen in Moskau, Kiew und Minsk verschieden interpretiert und stehe in „unerwünschter Opposition zum sowjetischen Präsidenten“. Zu Beginn des Kongresses hatte sich bereits Schewardnadse dafür ausgesprochen, ein Organ zur Koordinierung des neuen Staatenbundes einzurichten, der an die Stelle der früheren Sowjetunion treten soll.

Gespannte Ruhe in Moldawien

Die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ berichtete gestern, die Lage in der Stadt Dubossary in der Krisenregion von Moldawien sei weiterhin gespannt. Sicherheitsminister Anatol Plugaru habe aber mitgeteilt, daß während der Nacht Truppenbewegungen beobachtet worden seien. Am Samstag war es in der Nähe von Dubossary erneut zu Auseinandersetzungen zwischen moldauischer Polizei und Separatisten gekommen, wie das Innenministerium in der moldawischen Hauptstadt Kischinew bekanntgab. Dabei sei ein Polizist durch Schüsse schwer verletzt worden, hieß es. In Dubossary hatte es am Freitag blutige Zusammenstöße zwischen moldauischer Polizei und Separatisten gegeben. Nach Angaben des Innenministeriums erhöhte sich die Zahl der Todesopfer auf sieben, da zwei Verwundete am Samstag ihren Verletzungen erlegen seien.

Die Wortführer der Sezessionsbewegung in der überwiegend von Russen und Ukrainern bewohnten Transdnjestr-Region verweigerten am Samstag eine Einladung von Präsident Snegur zu Verhandlungen. Snegur erörterte die Lage mit zuständigen Mitgliedern seiner Regierung, erneuerte danach in einem Telegramm die Einladung zum Gespräch und erklärte, die Weigerung, an Verhandlungen teilzunehmen, könne einen Bürgerkrieg auslösen. anb