Atempause für den Botschaftsflüchtling

■ Nordkorea bietet Erich Honecker Aufnahme „aus medizinischen Gründen“ an/ Rußland verlängert Ultimatum, will aber den Ex-DDR-Chef nur in die BRD reisen lassen/ Chile lehnt Auslieferung jedoch ab

Moskau/Bonn (ap) — Mit der Verlängerung des Ultimatums an Erich Honecker zur Ausreise bis Montag hat die russische Regierung am Wochenende für eine Atempause im diplomatischen Tauziehen um die Zukunft des ehemaligen DDR-Staatschefs gesorgt. Nordkorea bot dem 79 Jahre alten Mann, der sich in der Residenz des chilenischen Botschafters in Moskau aufhält, die Ausreise aus medizinischen Gründen an. Bundeskanzler Helmut Kohl bekräftigte in Dresden, die Bundesregierung bestehe auf einer Auslieferung Honeckers. Chiles Innenminister Enrique Krauss erklärte jedoch gestern in Santiago, man werde Honecker nicht der deutschen Justiz ausliefern. Diese Haltung sei eine Art Dank für die Hilfe, die die DDR Flüchtlingen der Pinochet-Dikaktur gewährt habe.

Der russische Justizminister Nikolai Fjodorow teilte am Samstag der Nachrichtenagentur 'Tass‘ zufolge mit, bis Montag könne Honecker in der diplomatischen Mission Chiles bleiben. Zuvor hatte die Regierung erneut versichert, daß sie ihn nicht in ein drittes Land seiner Wahl ausreisen lasse. Honecker habe am vergangenen Donnerstag angefragt, ob er sich in Nordkorea in ärztliche Behandlung begeben könne, sagte der Diplomat Nyong Yun Jin von der nordkoreanischen Botschaft in Moskau am Samstag. „Wir haben entschieden, derartige Hilfe zu gewähren.“ Er betonte, es gehe dabei nicht um politisches Asyl, sondern um medizinische Versorgung aus „humanitären Gründen“. Yun erklärte, seine Regierung habe nach ihrer Entscheidung an den russischen Außenminister Andrei Kosyrew und den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse appelliert, Honecker aus medizinischen Gründen nach Pjöngjang ausreisen zu lassen.

Die russische Regierung versicherte aber dem deutschen Botschafter in Moskau in der Nacht zum Samstag erneut, daß ein Transfer Honeckers von der chilenischen Botschaft zum Flughafen nicht zugelassen werde, wenn er in ein Drittland ausreisen wolle, teilte das Auswärtige Amt in Bonn mit. Bundeskanzler Kohl sagte in Dresden, die Bundesregierung bestehe auf der Auslieferung Honecker nach Deutschland. Er habe in dieser Sache sowohl mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wie auch mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem chilenischen Präsidenten Patricio Aylwin telefoniert.

Die Berliner Staatsanwaltschaft erarbeitet nach Angaben der 'Süddeutschen Zeitung‘ vom Samstag eine Anklageschrift gegen Erich Honecker, die weit über die Vorwürfe im Haftbefehl hinausgeht. Sie solle „im Frühjahr“ vorgelegt werden, habe der Chefermittler im Verfahren um die Regierungskriminalität in der DDR, der leitende Oberstaatsanwalt Christoph Schaefgen, erklärt. Im bisherigen Haftbefehl seien nur vier Todesschüsse an der Mauer aus den achtziger Jahren aufgezählt worden. Die Anklageschrift solle nun „repräsentativ“ für die Grenzsicherung der DDR sein und auch Taten von 1961 und 1974 enthalten. Die Anklage werde sich nicht auf die Anordnung des Schußwaffengebrauchs an der Mauer beschränken, sondern auch Tötungen durch Minen und Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze einbeziehen.