Den letzten Blumentopf verscheuern

Auf dem Tischin-Markt handeln die „Bettelarmen“ Moskaus mit buchstäblich allem, was nicht niet- und nagelfest ist  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Richterin habe sich beschwert, sagt der Milizionär, man möge sie doch mit derlei Fällen verschonen: Zu Geldstrafen könne sie Leute, die weder in der Tasche noch zu Hause eine Kopeke haben, wohl nicht verurteilen. Und auch hinter Gitter setzen könne man niemanden wegen Handels mit drei leeren Flaschen oder einer zerissenen Strumpfhose. „Seitdem“, so der Hüter des Gesetzes, „gucken wir weg.“ Weg guckt in diesen Fällen auch die Mafia (deren Vertretern auf die Finger zu sehen die Miliz auf dem Tischin-Markt im Moskauer Altstadtviertel „Krasnaja Presnja“ allerdings allen Grund hätte) — die Allerärmsten interessieren auch sie nicht. Und so handeln die einen (die Mafiosi) ungestört schwarz an ihren überdachten Ständen mit Tomaten, zu 50 Rubel das Kilo, und Würsten und Hühnern zu hundert Rubel das Stück, und die anderen, die Ärmsten der Armen, gleich nebenan: Hinter einer unsichtbaren, aber genau definierten Grenze, bieten sie — zwar im Schneeregen, aber ebenso unbehelligt — buchstäblich ihren letzten Blumentopf zu 50 Kopeken an.

Nichts deutet von der Straße, der Bolschaja Grusinskaja, auf die Existenz dieser allerpopeligsten „Tolkuschka“ hin (so bezeichnen die Moskauer derartige Tauschplätze: als „Gedrängel, Gestoße“). Nur ein kleines gelbes Gebäude duckt sich in die Pfützen, über dessen winzigen Fensterchen mit vor Dreck starrenden Gardinen die Aufschrift „Hotel am Tischin-Markt“ prangt. Hinter der benachbarten Toreinfahrt tut sich eine unerwartet weitläufige Freiluftbühne auf: Wie ein chagallsches Dorf reihen sich windschiefe ungestrichene Bretterkaten an die zwei rundgemauerten Hauptmarkthallen. Viele Verkaufsstellen sind geschlossen, „Galanteriewaren“ steht in schnörkeliger Glasmalerei an der einen. Noch geöffnet ist die Pfandleihe, die zum historischen Ausgangspunkt der „Tolkuschka“ wurde; in ihr hängt eine einzige speckige Lederjacke. Wer sich keine neuen Schuhe leisten konnte, ergatterte hier früher immer noch ein paar abgetretene Latschen, heute finden die Waren schon vor der Schwelle ihre Abnehmer.

Als „Nischtschie“, nicht einfach Arme, sondern „Bettelarme“ bezeichnen sich die RentnerInnen, ArbeiterInnen und Krüppel, die hier eigenen Hausrat und bisweilen wohl auch das letzte Inventar irgendeines staatlichen Werkes verscheuern. An diesem Wochenende zum Beispiel zwei in gräuliche Plastiktüten gehüllte Stoffcoupons und einige Spindeln mit Garn. Man schämt sich der eigenen Armut, doch nicht individuell, sondern kollektiv: „Ihr seid eben Arbeitstiere, und wir, na wir sind Schmarotzer!“ ruft eine von leeren Flaschen umringte Alte einer Gruppe allzu westlich gekleideter Besucher nach. Das Existenzminimum für einen Sowjetbürger wurde in diesem Herbst offiziell auf 500 Rubel im Monat angesetzt, angesichts der rapiden Preisexplosion kann es morgen schon das Doppelte betragen. Schon jetzt verdient kaum die Hälfte der Berufstätigen das nötigste, ganz zu schweigen von den Rentnern, die sich in der Regel mit 90 bis 150 Rubel im Monat begnügen müssen. Da ist es fast schon wieder ein Trost, daß angesichts der leeren Ladenregale jeder Gegenstand zur Kategorie des Defizitären gerechnet wird und somit verkaufbar ist. In erster Linie sind es natürlich zu klein gewordene Kindersachen, Baby-Fertignahrung und abgelegtes Spielzeug, die nicht lange auf den Plastiktüten und Zeitungen im Schlamm liegenbleiben, aber auch ein kaputtes Bügeleisen, der zerrissene Büstenhalter oder eine Bohrmaschine ohne Einsätze werden noch benötigt: als Ersatzteilieferanten.

Von der „Substanz“ leben heute die mittleren Jahrgänge in der ehemaligen UdSSR. Das heißt, die alte Jacke des Vaters für den Sohn zu wenden, die Bettdecke an die Jungverheirateten abzugeben, sich aus zwei Wolldecken eine neue zu machen und mit ein paar Stühlen weniger in der Wohnung auszukommen als bisher. Wenig hilft diese Kunst jenen, die so jung sind, daß noch keine Substanz angesammelt, oder so alt, daß sie sie schließlich aufgebraucht haben. „Mein Sohn ist so mager und unkonzentriert geworden“, beklagt sich eine Petersburger Freundin, deren Junge in Moskau studiert: „Er sagt, daß er sich schon lange nicht mehr sattgegessen hat. Zum Einkaufen in den Läden reicht das Stipendium nicht, das Mensaessen wird von Tag zu Tag kalorienärmer.“ „Wenn ich heute abend nach Hause komme, habe ich nichts zu essen“, gesteht nach meinen eindringlichen Fragen eine Rentnerin auf dem Tischin-Markt: „Ich habe sogar noch ein bißchen Geld, aber in unserem Lebensmittelgeschäft gab es heute buchstäblich nichts zu kaufen, und die Marktpreise kann ich mir nicht leisten.“ Sie steht genau dort vor dem geschlossenen Galanteriewaren- Büdchen, an dem neulich ein stocknüchterner Mann aus Schwäche in Ohnmacht fiel. Noch weiß sich die alte Dame vor diesem Schicksal zu bewahren: Sie habe gerade eine leere Weinflasche erstanden, gegen deren Abgabe sie sich um die Ecke eine volle kaufen könne, sagt sie augenzwinkernd — „um zu vergessen“.

„Noch hungern wir nicht“, erklären mir die meisten älteren Frauen auf dem Tischin-Markt, und einige setzen stolz hinzu: „Wir haben unsere eigenen Kartoffeln.“ Die Russen sind nicht verwöhnt: Kohl, Zwiebeln, Kartoffeln und rote Beete — über diese traditionellen Grundnahrungsmittel gehen die Sehnsüchte nur an Feiertagen hinaus. Manche entdecken neue Märkte, so ein bärtiger Kriegsveteran auf Krücken: „Mir geht es gar nicht so schlecht, ich habe nämlich zu malen angefangen und verkaufe manchmal sogar ein Bild.“ Manch einer zahlt jetzt dafür, daß er in besseren Zeiten nicht vorgesorgt hat, so ein unternehmungslustiger Mittvierziger aus Tula, der eine Pelzmütze, „echt Hund“, feilbietet: Er will sich dafür eine Hose kaufen. Das allerdings ist problematisch. Die seine ist an einer peinlichen Stelle hoffnungslos zerschlissen, in den staatlichen Läden aber gibt es keinen Ersatz mehr, und einen Hosenkauf in den privaten Kooperativen kann er sich als Vater von drei Töchtern nicht leisten. Der Zustand der Hose, gesteht er, bedrohe schon die Harmonie in der Familie. Dann aber setzt er munter hinzu: „Eigentlich wollte ich mich in Moskau nur über die Politik informieren. Ein Jahr würde ich mir schon noch aus der Verlegenheit helfen, indem ich einfach überall den Regenmantel anbehalte. Wenn mir nur jemand plausibel machen könnte, daß es dann Hosen in den normalen Läden geben wird!“