Ein Wunderland unter Schieferdächern

Südthüringen — das traditionelle Land der Spielzeugproduktion/ Wie die Lauschaer den gläsernen Christbaumschmuck erfanden/ Subventionierte Betriebe kämpfen um ihre Existenz/ Asbest-Fassaden im Dorf der Griffel  ■ Aus Sonneberg Heide Platen

Eine Traumwelt, irgendwo zwischen Disneyland und deutscher Wunderweihnacht gelegen: Lauscha in Südthüringen. Vor jedem Haus steht ein Tannenbaum im bunten Weihnachtsschmuck. Die Wohnhäuser drängen sich wie Knusperhäuschen die Straße bergan bis zur Farbglashütte. In den Schaufenstern der Läden blinkt und glitzert es. Traditioneller Weihnachtsschmuck stapelt sich versandfertig in Kartons in den Hausfluren. Glasbläser zeigen einer Schulklasse, wie aus dem Halbfertigzeug, den massiven oder hohlen Glasröhren, ein blaues Weinglas mit verschnörkeltem Stil oder ein kristallglänzender Stöpsel für einen Flakon entstehen kann. Die Gasbrenner zischen, Glas glüht auf, dehnt sich zur aufgeblasenen Kugel oder wird mit Spateln und Zangen in Form gezogen.

Um die Ecke, hinter dem Marktplatz, führt Museumsassistent Geßlein Besucher durch das Glasmuseum. Er weiß alles über Glas, über dessen Geschichte und Verarbeitung, über den Ort und seine Glasbläser-Familien und -Künstler. Exponate aus 400 Jahren sind hier ausgestellt, seit 200 Jahren wird in Lauscha Glas verarbeitet. Die vielen Doppelnamen im Ort? Ganz einfach. Die Glasbläser-Tradition wurde vor allem von zwei Familien getragen, den Greiners und den Müllers. „Und das“, sagt Geßlein, „waren so viele, daß man sie eben irgendwie auseinanderhalten mußte, den Greiner Mai, der nostalgischen Weihnachtsschmuck herstellt, den Müller Uri, der das Glasauge erfunden hat..., und so weiter, und so fort.“

Das Glasperlen-Spiel

Die Lauschaer haben auch die Weihnachtsbaumkugel erfunden. In den Vitrinen liegen ihre Vorgängerinnen aus zwei Jahrhunderten: Perlenkolliers, täuschend echt, mit mildem, perlmuttenem LÜster. „Nach denen“, sagt Geßlein stolz, „haben sich schon die Japaner die Nasen plattgedrückt!“ Die Glasperlen, irrtümlich als Wachsperlen bekannt, wurden in Lauscha geblasen, innen oder außen mit „Fischsilber“, den zermahlenen Schuppen der Ukelei, beschichtet und, um das Gewicht einer echten Perle vorzutäuschen, mit Wachs gefüllt. Aber auch Glasketten wurden produziert, bunt wie kleine Weihnachtskugeln. Der erste gläserne Baumschmuck war aus kleinen Kügelchen zusammengesetzt: Ketten, Blüten und Sterne. Mit der Einführung des Gasgebläsebrenners Mitte des vorigen Jahrhunderts, der höhere Schmelztemperaturen ermöglichte, schlug die Stunde der Weihnachtsbaumkugel. Die ersten, die „Schecken“, sind bleiverspiegelt. Das schnell erkaltende Blei füllte sie innen nicht flächendeckend aus, die Lücken wurden mit roter und grüner Farbe geschlossen. Den freigeblasenen Kugeln folgten in eine Hohlform geblasene Phantasiefigürchen.

Der güldne Schein trügt

Im Weihnachtswunderland ist nicht alles in Ordnung, die Idylle trügt. Die Gänge der Farbglashütte sind weit und leer. Hinten in der Fertigung drehen nur noch wenige Angestellte die rotglühenden Glaskolben. Tausende waren hier, wie in der ganzen Region, mit der Verarbeitung von Glas, Industrie- und Sanitärkeramik, Laborglas, Glasdämmstoffen und Porzellan beschäftigt. Sie sind abgewandert oder entlassen worden. Ein kleiner Betrieb produziert noch Glasaugen, Prothesen für Menschen, und naturgetreue Tieraugen für Präparatoren. Der Versuch einzelner, sich auf Kunst und Kunstgewerbe umzustellen, geht nur schleppend voran. „Wer kennt schon Lauscha?“ fragt die Telefonistin im Fremdenverkehrsamt resigniert. Geßlein berichtet, daß das Museum vor der Wende jährlich 200.000 Besucher hatte. Jetzt sind es nur noch 40.000. Einige hoffen auf den Fremdenverkehr und darauf, daß die internationale Skischanze Touristen anlockt. Nur stimmt die Infrastruktur nicht, es fehlen Hotelbetten und Gasthäuser.

Auf dem Weg nach Sonneberg liegt das malerische Schieferdörfchen Steinach. Die wenigen Besucher können — allerdings nur im Sommer — das kleine Griffel-Museum besuchen. Die „größten Griffelproduzenten der Welt“ stellten ihren Betrieb 1968 ein. Von weitem ist der Ort mit seinen in allen Nuancen grauen Schieferfassaden, eingebettet zwischen den verschneiten Bergen des Thüringer Schiefergebirges, von einem eigenartigen, fast unwirklich märchenhaften Reiz. Doch ausgerechnet hier, in der Urheimat der Schieferverarbeitung, trügt der Schein mehr noch als in Lauscha. Die Schiefertäfelungen und Mosaiken erweisen sich bei näherem Hinsehen als geschnittene Asbestplatten.

Was den Lauschaern die Glasverarbeitung, das ist den Sonnebergern das Spielzeug, allem voran die Puppen. Im Spielzeugmuseum ist eine ansehnliche Sammlung zusammengetragen. Von der steifen Dame, der höfischen Vorläuferin des Modejournals, die wie eine viktorianische Barbie-Puppe dreinschaut, bis zu den Plastikprodukten der sozialistischen Massenfertigung.

Kampf ums Überleben

Die großen und kleinen Betriebe waren allesamt im VEB Spielwarenindustrie zusammengeschlossen. Jetzt kämpfen sie um ihr Überleben. Der größte Betrieb versucht gerade, nach Massenentlassungen, zu retten, was zu retten ist. Wenigstens der Modelleisenbahnbau soll erhalten bleiben. Aus dem Gebäude in der Innenstadt, in dem Mikroelektronik gefertigt wurde, ist sie ausgezogen. Im Schaufenster des geschlossenen Firmenladens stehen noch die Miniatur-Trabis. Auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Bahnhof versucht sich die benachbarte, kleine Plüschtiermanufaktur, jetzt wieder im Familienbesitz, in der Direktvermarktung. Die Hunde, Katzen, dicken grünen Nilpferde sind sorgfältig genäht und detailreich. Trotz zu niedriger Preise können sie nicht mit der Konkurrenz aus Fernost mithalten. Sie haben vorerst keine oder längst vergessene Markennamen, kaum Vertriebswege.

Vergeblich drehen sich auch die Holzpyramiden, fletschen die gedrechselten Nußknacker aus dem Erzgebirge die kräftigen Zähne. In den Kaufhäusern und Ladenketten machen ihnen die Asien-Importe zu Billigpreisen Konkurrenz, deren Engeln taiwanesische Handarbeiter sanfte Mandelaugen gestrichelt haben. Aus ist es mit der Handarbeit, die bis in dieses Jahrhundert hinein noch Heimarbeit und Heimindustrie war.

Über deren Härten, die Kindersterblichkeit, die Krankheiten, das Elend in der bitter armen Gegend berichten die Museumsbroschüren ebenso wahr wie in sozialistischem Einheitstext, für den sich die Mitarbeiter in einer Beilage entschuldigen. Sie träumen von der ehemaligen Wirtschaftsregion, die bis nach Bayern reichte und Spielwaren in alle Welt exportierte. Davon, daß Sonneberg einmal den Titel der „Weltspielzeugstadt“ inne hatte und mit lebensgroßen Puppengruppen Preise von Weltausstellungen nach Hause brachte, zeugt noch heute die „Sonneberger Kirmes“. Sie ist im Untergeschoß des Museums aufgebaut.

Bis zu 80Prozent der Produkte, berichtet die Öffentlichkeitsreferentin Heidi Losansky, sind damals in die ganze Welt, vor allem in die USA exportiert worden. Das lief so gut, daß der Kaufhofkonzern Woolworth hier in den 20er Jahren ein Handelshaus errichtete.

Selbst die Weltwirtschaftskrise, die für schwere Einbrüche sorgte, habe die Region allerdings nicht so ruiniert wie die Grenze, die sie vom westlichen Handel abgeschnitten habe. Die Industrie sei zwar kräftig subventioniert worden, daß aber Besucher in den Ort kamen, sei „nicht gewollt“ gewesen.

Der Niedergang habe aber schon vor der Grenzschließung 1961 begonnen, als die Fabrikbesitzer nach und nach in Richtung Westen abwanderten. Die folgende Orientierung auf den Absatzmarkt im Osten, so Losansky, „bricht den Firmen jetzt hier das Genick“. Die Arbeitslosenrate liegt zur Zeit bei zehn bis zwölf Prozent, Tendenz steigend.

Pendeln in den Westen

Sie hofft auf einen Aufschwung beim Handwerk und im Tourismus, lobt die Bahnanbindung, denn rund 5.000 Pendler arbeiten in Bayern, wo ebenso in fränkischer Mundart geredet wird wie in Südthüringen. Dahin, meinen viele auch, gehören sie als Region, nicht zum Norden. Die im Norden wiederum lieben den Süden ihres Bundeslandes auch nicht sonderlich und schimpfen ihn das Land der „Kartoffelfresser“ und Hungerleider, das in den letzten 40 Jahren staatliches Hätschelkind gewesen sei und die Subventionen verschlungen habe. Nein, von dort sind derzeit wohl keine Touristen zu erwarten. Aber zuerst einmal müssen Hotels her, von den 26 Übernachtungsbetrieben hat im Sperrgebiet kaum einer überlebt.

Die westliche Spielzeugindustrie hat sich die vormals weltbekannte Adresse zunutze gemacht. Zwei Markenartikelfirmen, eine für Modelleisenbahnen, eine für Spielzeugrennbahnen, kauften sich ein. Eine Fusion mit branchenverwandten örtlichen Unternehmen lehnten sie ab. Heidi Losansky kämpft tapfer gegen den grassierenden Pessimismus an. Die Spielzeug- und Glasherstellung müsse gerade mit dem Blick auf den Tourismus erhalten werden. Sie hofft auf das Überleben kleiner und mittlerer Betriebe. Wolfgang Wiegand, im Landratsamt für die Kultur zuständig, teilt diese Hoffnung. Er setzt auf die Erfindungsgabe der Südthüringer. Gleich drei von ihnen hätten, unabhängig voneinander, etwas weitaus besseres als nur den tiefen Teller erfunden: das europäische Hartporzellan. Daß waren außer Johann Friedrich Böttger aus Schleiz, der eigentlich im fürstlichen Auftrag Gold machen sollte, ein alchemistischer Kandidat der Theologie, und der Limbacher Glasmeister Gotthelf Greiner.

Wenn das alles nicht hilft, empfiehlt Heidi Losansky vorsichtshalber außer der Landschaft auch noch die Sonneberger Küche: Klöße, Bratwurst, Rostbrätl, das knusprig gegrillte Kammsteak, und die runden, lockeren Hefepfannkuchen. Nicht alle werden schließlich so unternehmungslustig sein wie jener 90jährige aus Lauscha, der bunte Schmetterlinge aus feiner Glasfaser herstellt. Er kündigte an, daß er sich selbständig machen werde.