DEBATTE
: Die dritte Geisel

■ Zu Salman Rushdies Auftritt an der New Yorker Columbia University

Es weihnachtet sehr, und alle Geiseln sind frei — fast alle. Die Deutschen sind dermaßen postnational gestimmt, daß sie ihre beiden im Libanon festgehaltenen Landsleute vergessen haben, und doch nicht Kosmopoliten genug, um wenigstens der dritten, der fremden Geisel Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu widmen. Die dritte Geisel in den Händen radikaler Islamisten heißt Salman Rushdie.

Der notorische Übertreter und Künstler der Verwandlung hat sich mit einem dramatischen Auftritt in Erinnerung gerufen, erstmals außerhalb Großbritanniens. Überraschend (wie auch sonst) tauchte er an der New Yorker Columbia University auf und gab eine improvisierte Vorlesung über Meinungsfreiheit und das freie Wort, für ihn „das Leben selbst“. In seiner Rede kündigte der Autor der Satanischen Verse die Paperback-Ausgabe an, die er mit Rücksicht auf die verletzten Gefühle der Muslime und vage Aussichten auf eine Geiselbefreiung zurückgehalten hatte. Nun sind fast alle Geiseln frei, aber von Rushdie lassen die Todesschwadrone nicht ab. Genau vor einem Jahr, Weihnachten 1990, traf er sich mit islamischen Geistlichen und verkündete der Welt seine Hinwendung zu Allah und dem Propheten Muhammad. Heute, nach über tausend Tagen Geiselnahme, kommt ihm dieser Verzicht verfehlt vor; er könnte opportunistisch erscheinen.

An Artikel 19 der Menschenrechtserklärung, am freien Wort eben, hat Salman Rushdie auch als Moslem nie herumgedeutelt. Aber dieses universale und unverrückbare Prinzip war eingebettet in eine überraschende, lebensgeschichtlich einleuchtende und raffinierte Form der Religio, d.h. der Rückbindung an die Gemeinschaft der gläubigen Muslime. Rushie hat nie und nichts widerrufen. Doch Gedankenfreiheit und Romankunst schienen ihm nicht einem Islam zu widersprechen, der sich selbst als tolerant und aufgeschlossen bezeichnet und so modern und weltlich sein sollte, wie es der nicht allzu strengen und undogmatischen Frömmigkeit des Gros der eingewanderten Muslime im Westen entspricht. Rushdie, dem Dichter der multikulturellen Weltgesellschaft, schwebte ein neuer, ein „andalusischer“ Islam vor, wie in der maurischen Periode Spaniens vor 1492, als Moslems, Christen und Juden friedlich zusammenlebten und sich in gegenseitigem Respekt austauschten und beflügelten.

Der Übertritt zum Islam, der manchen vorkam wie ein absurder Slalom zwischen Gottesfurcht und Säkularismus (oder anderen als blanker Verrat und zweiter Fall Galilei), war vielmehr ein gewagter, verzweifelter Versuch, Weltlichkeit und Frömmigkeit im Diaspora-Islam in Balance zu bringen, gegen die sture Evidenz des offenbarten Dogmas und gegen die geistlichen Überwacher der Großen Erzählungen, die zwischen Ghom und Bradford die Muslime in ihrer Gewalt haben. Wäre es gelungen, den gotteslästerlichen Dichter zum Propheten einer islamischen Alternative zu machen — für die Gralshüter der Orthodoxie wäre das der Gipfel der Blasphemie gewesen, und deswegen konnten sie auch kein Pardon geben.

Rushdie attackiert nicht nur den Iran, dieses Terrorregime, mit dem alle Welt gut Freund sein will. Er rechnet ab mit seinen moslemischen Gesprächspartnern, die den Weg zur Modernisierung des Islams im Westen nicht mitgegangen sind und ihn fast alle kaltlächelnd verraten haben. Der Islam ist für ihn ein „realexistierender“, so wie es der Sozialismus war und sonst nichts. Die Brücke zur freiheitlichen Demokratie ist nicht geschlagen worden. Salman Rushdie sieht sich gescheitert wie sein Vorbild aus dem 12. Jahrhundert, der Blütezeit des Islams, Ibn Rushd aus Córdoba. Der andalusische Traum ist ausgeträumt.

Diese Resignation ist eine Katastrophe. Rushdie ist sie nicht anzulasten; nicht er hat den „Dialog“ platzen lassen. Verantwortlich sind die islamischen Radikalen und jene knieweichen Theologen und Intellektuellen, die apropos Rushdie immer noch fruchtlose Debatten über den literarischen Wert der Satanischen Verse anzetteln, statt entschieden zur Sache zu reden. Die alte Frontstellung — hier der aufgeklärte Dissident und Religionskritiker, dort die obskuranten Mullahs — stimmt wieder. Denn die aufgeklärten Muslime haben Rushdie nicht schützen können. Einen dritten Weg gibt es anscheinend auch hier nicht: Die Schlachtordnung zwischen Europa und „dem“ Islam nimmt Kontur an. Eine Katastrophe ist diese bereits hämisch kommentierte Entwicklung nicht nur für den bedrohten Dichter, sondern für alle, die den streitbaren Dialog betreiben und auf eine Art islamische Reformation im Westen gesetzt haben. Auch wenn sie einen so starken und unbequemen Mitstreiter wie Rushdie wahrscheinlich verloren haben, dürfen liberale Muslime die Hoffnung nicht verlieren — und wir auch nicht.

PS (Ceterum censeo): Ein Handel mit dem Iran, der die Lage Salman Rushdies außer acht läßt, ist unzulässig. Dies gilt auch für Buchmessen.

PPS (in eigener Sache): Christiane Peitz zitiert in der taz vom 16.12.1991 ausgerechnet mich als Kronzeugen für jene westlichen Intellektuellen, die Salman Rushdie nach seiner Konversion (oder Reversion) zum Islam als „rückgratlos, pathetisch, minderwertig“ denunziert und schmählich im Stich gelassen haben, weil sie nur an einem areligiösen Held der westlichen Welt Interesse finden und behalten. Im Unterschied zu diesen steigerte sich jedoch mein Interesse an Werk und Person Rushdies noch, wie genau nachzulesen ist in einem umstrittenen Artikel in den 'Blättern für deutsche und internationale Politik‘ (Heft 9/1991). Claus Leggewie

Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen.