„Es ist nicht leicht, 1.000 Leichen loszuwerden“

Seit einem halben Jahr wird in Stuttgart gegen den 79jährigen früheren SS-Oberscharführer Josef Schwammberger wegen Mordes verhandelt/ Erschütternde, aber widersprüchliche Zeugenaussagen und ein regloser Greis auf der Anklagebank  ■ Aus Stuttgart Edgar Neumann

Etwas vermißt der Angeklagte auf den neuaufgenommenen Fotos, die ihm am 41. Verhandlungstag von seiner früheren Villa im polnischen Przemysl vorgelegt werden: „Wir hatten da einen Hundezwinger“, erläutert der 79jährige frühere SS- Oberscharführer Josef Schwammberger, der sich seit einem halben Jahr vor der 9. Strafkammer des Landgerichts für den Mord und die Beihilfe zum Mord an mehr als 3.000 jüdischen Ghetto-Insassen verantworten muß. Dieser Zwinger muß wohl auch die Residenz von „Prinz“ gewesen sein, einem Schäferhund, den Lagerkommandant Schwammberger nach der Aussage mehrerer Zeugen immer wieder auf Gefangene hetzte. In einigen Fällen seien die Menschen von dem Tier regelrecht zerfetzt worden.

Zu diesen und anderen ihm vorgeworfenen Greueltaten schweigt Schwammberger noch immer beharrlich, nachdem er die Anklagevorwürfe zu Beginn des Prozesses pauschal bestritten hatte. Die wächserne Gleichmut des reglosen Greises auf der Anklagebank einerseits und die aufwühlenden Schilderungen der überlebenden Opfer des Holocaust andererseits geben dem Prozeß eine bizarre Dimension. Inzwischen haben 30 Zeugen von ihrer Leidensgeschichte während der NS- Herrschaft berichtet und über ihre Erlebnisse mit dem SS-Mann Schwammberger ausgesagt. Der in Frankreich lebende Zeuge Gourarier faßt zusammen, was viele Opfer schon zum Ausdruck gebracht haben: „Ich hatte einen kleinen Vorteil, weil ich gut deutsch sprechen konnte. Manche, die einen kleinen Vorteil hatten, überlebten. Aber Tausende und Millionen starben. Die genaue Tiefe der Hölle der Naziverfolgung wird der Menschheit deshalb unbekannt bleiben.“ Immer wieder hören die Prozeßbesucher, darunter ganze Schulklassen, erschütternde Schilderungen von Mißhandlungen und wahllosen Tötungen einzelner Ghetto-Insassen, von Massenerschießungen durch die SS oder die Wachmannschaften auf Befehl und mit Beteiligung Schwammbergers.

Da ist die sogenannte „Turnhallenaktion“, bei der im Herbst 1943 im Ghetto Przemysl weit mehr als 1.000 Menschen im Hof einer Turnhalle erschossen und anschließend verbrannt wurden. Gourarier: „Es ist nicht leicht, tausend Leichen loszuwerden.“ Tagelang habe der Scheiterhaufen gebrannt, und der Rauch verbrannter Leiber sei in der Luft gelegen.

Und der Franzose fügt Sätze an, die das Grauen greifbar machen. Als späterer Gefangener in Auschwitz sei er Spezialist im Wahrnehmen dieser Gerüche geworden: Er konnte unterscheiden, ob ausgemergelte oder wohlgenährte Körper verbrannt wurden.

Was die Zuhörer nicht wissen oder nur andeutungsweise mitbekommen: Manche Zeugen haben bei früheren polizeilichen oder konsularischen Vernehmungen Aussagen gemacht, die teilweise erheblich von dem abweichen, was sie jetzt bekunden. Andere können sich dagegen offensichtlich noch immer präzise und differenziert an die traumatischen Erlebnisse erinnern.

Zielschießen auf Kinder

So sagt Henri Gourarier aus, er sei sich „sicher“, Schwammberger bei der „Turnhallenaktion“ gesehen zu haben, könne das aber nicht beschwören. Die Entfernung zwischen der Werkstatt, in der Gourarier arbeitete, und der Turnhalle sei zu groß gewesen, um Schwammberger in einer Gruppe von SS-Offizieren eindeutig zu erkennen. Dieser habe allerdings nach der Erschießung zwei Mitgefangene Gourariers zum Verbrennen der Leichen abkommandiert, wovon sie nicht wieder zurückkehrten.

Der heute in Israel lebende Jakov Jaeger schildert, wie Schwammberger Kinder, die von SS-Leuten aus den Fenstern eines Waisenhauses geworfen wurden, als lebende Zielscheiben benutzt habe. Die Verteidigung hält ihm daraufhin vor, bei einer Vernehmung vor einigen Jahren in Tel Aviv habe er jedoch noch ausgesagt, bei der Aktion im Waisenhaus sei nicht geschossen worden. Jaeger erklärt solche Widersprüche unter anderem damit, daß erst jetzt wieder viele Bilder in ihm aufsteigen über den Terror der damaligen Zeit. Und Gourarier weiß noch zu berichten, wie er sich zum ersten Mal wieder daran erinnerte, eine Grube für eine Massenerschießung ausgehoben zu haben. Als er vor einigen Jahren mit seiner Familie den Urlaub am Meer verbrachte, sei er plötzlich wütend über seine Kinder geworden, die im Sand buddelten. Da holten ihn seine eigenen Erinnerungen wieder ein.

Hier liegt auch das Dilemma dieses Prozesses. Welche Anklagepunkte lassen sich mit der Elle des Strafrechts noch schlüssig nachweisen — und dies in einem vernünftigen Zeitrahmen, der die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit Schwammbergers berücksichtigt?

Der alternde „SS-Gott“

An diesem Punkt gehen auch die beiden Pflichtverteidiger Schwammbergers stets auf einem schmalen Grat. Einerseits müssen sie die Interessen ihres Mandanten wahrnehmen und versuchen, bei Widersprüchen in den Zeugenaussagen nachzuhaken. Andererseits müssen sie den Zeugen und ihrer Leidensgeschichte gerecht werden. Aber, darüber läßt Rechtsanwalt Armin Baechle keinen Zweifel, um eine weitergehende Beweisaufnahme wird die Kammer nicht herumkommen. Gerade angesichts beträchtlich voneinander abweichender Zeugenaussagen müsse manches noch genauer aufgeklärt werden. Zunächst werden die Richter, Staatsanwalt und Verteidiger zum Jahresbeginn noch einmal ins Ausland reisen, um in New York, Toronto und Tel Aviv an konsularischen Vernehmungen von Zeugen teilzunehmen.

Bisher wurden auch „nur“ die Komplexe Rozwadow und Przemysl verhandelt, zwei von Schwammberger geleitete NS-Zwangsarbeiterlager in Polen. Um seine Schreckensherrschaft in einem dritten Lager — Mielec — ins Verfahren mit einzubeziehen, bedürfte es allerdings der Genehmigung der argentinischen Regierung, die Schwammberger nur wegen der ersten zwei Anklagekomplexe ausgeliefert hatte. Die Staatsanwaltschaft hat diese Genehmigung beantragt.

Somit ist der weitere Verlauf des Prozesses gegen den „SS-Gott“, wie Henri Gourarier Schwammberger in Erinnerung hat, ungewiß. Es wird dauern bis zum Urteil, es wird länger dauern bei einer möglichen Revision.

Die Zeit verrinnt für die gerichtliche Aufarbeitung dieses Kapitels der schlimmsten deutschen Vergangenheit. Eine „biologische“ Lösung des Verfahrens, daß nämlich Schwammberger nicht mehr verhandlungsfähig ist oder vorzeitig den Weg alles Vergänglichen geht, wird immer wahrscheinlicher.