Die Geister, die er rief, zerstörten seine Macht

■ Als erster Generalsekretär seit Stalin duldete Gorbatschow den öffentlichen Widerspruch gegen sich selbst/ Es entstand das Bild, er koaliere mal mit dem einen, mal mit dem anderen/ Feinde der Reformen drängte er wider Erwarten nicht aus der Politik

Auf den ersten Bildern Gorbatschows, die durch die Medien gingen, nachdem er Generalsekretär der KPdSU geworden war, wurde das große Muttermal auf seiner Stirn noch wegretuschiert. In der damaligen sozialistischen Welt herrschte noch die Angewohnheit, die Bilder der führenden Politiker zu schönen. Nur Tage dauerte es allerdings, bis die unretuschierten Bilder übertragen wurden. Der Generalsekretär der KPdSU hatte den Anspruch auf Makellosigkeit aufgegeben. Das war der erste Akt jener Informationspolitik, die unter dem Namen Glasnost durch die Welt ging. Sehr bald wurden die Interpretationstechniken der sogenannten „Kreml-Astrologie“ obsolet, die von der Grammatik politischer Selbstdarstellung „im Kreml“ beziehungsweise in den sozialistischen Staaten überhaupt ausgingen. Jetzt war es egal, wer neben dem Generalsekretär stand, wer in welcher Reihenfolge in der 'Prawda‘ auftauchte oder nicht. Die Reden des Generalsekretärs wurden nicht mehr zum Wahrheitsbeweis philosophischer oder historischer Aussagen herangezogen, und die sowjetischen Politiker begannen einander öffentlich zu kritisieren.

Gorbatschow verstand es, seine Feinde mit geschickten Schachzügen zu isolieren

Gorbatschow war durchaus auch ein Produkt des Apparates. Er verstand es, seine Feinde mit einigen geschickten Schachzügen zu isolieren; durch Zuwahlen oder Ausschlüsse gelang es ihm, immer wieder feindliche Koalitionen aufzulösen und zu umgehen. Immer wieder stand er in der Gefahr, durch ein widerwilliges Zentralkomitee oder ein feindseliges Politbüro gestürzt zu werden. Aber innerhalb der Apparate war Gorbatschow gewitzter als alle anderen. Zu seiner Meisterschaft gehörte es, das Zentralkomitee der KPdSU oder den Obersten Sowjet von der Tribüne aus zu manipulieren oder zusammenzustauchen. Das war eine Kunst, die Gorbatschows Vorgänger Tschernenko, Andropow und Breschnew nicht hatten beherrschen müssen. Sie konnten reden, was sie wollten; für die Überzeugungskraft ihrer Argumente sorgte der KGB. Als erster Generalsekretär seit Stalin duldete Gorbatschow den öffentlichen Widerspruch gegen sich selbst, obwohl er zuweilen aus der Haut fuhr. Es gehörte allerdings nicht zu seiner Art, die Feinde zu „zerschmettern“ — weder physisch noch verbal. Auf diese Weise entstand bald das Bild eines zentristischen Gorbatschow, der mal mit den einen und mal mit den anderen koaliert, der also doch kein entschiedener Reformer ist, der wider Erwarten die Feinde der Demokratie nicht aus der Politik drängt, ihnen nicht das Maul verbietet und der Bevölkerung keine neuen Mentalitäten einhaucht. Obwohl Gorbatschow gerade nicht den Anspruch stellte, ein Übermensch oder Halbgott zu sein, wurde ihm angekreidet, daß er keiner war.

Was Gorbatschow nicht wollte, war die Auflösung der Sowjetunion

Gorbatschow, der mit seinen Reden keine Menschenmengen begeistern konnte, wurde zum verhaßtesten Menschen der Sowjetunion, die nach Volkshelden hungerte. Angekreidet wurde ihm, daß er die Reformen in Richtung Marktwirtschaft und parlamentarischem Rechtsstaat zu zögernd oder gar nicht vorangetrieben habe. Der Vorwurf war nicht unberechtigt, aber problematisch. Er enthielt noch immer die Vorstellung eines allmächtigen führenden Politikers, der einen wunderbaren historischen Plan realisiert. Zu seiner Unbeliebtheit trug das sich mit dem Umbau entwickelnde Chaos bei. Gorbatschow wollte Wirtschaftsreformen in Richtung größerer Liberalität, Selbstverantwortlichkeit, Selbstdisziplinierung, Effizienz und Toleranz. Wie das umzusetzen war, wußte er, wie sehr rasch zu sehen war, selbst nicht. Daß er Selbstläufigkeit auslöste, daß ihm Widerspruch erwuchs, schien zunächst nicht das Problem zu sein. Wenn die Kontrollen gelöst werden, entfaltet sich eben Eigeninitiative. Was Gorbatschow zweifellos nicht wollte, war das Chaos und war die Auflösung der Sowjetunion. Aber Gorbatschow hatte Kräfte geweckt, die seine eigene Machtbasis zerstörten. Er entmachtete das bis dahin allmächtige Politbüro der KPdSU, verschob das Machtzentrum auf den Staatsapparat und leitete damit den Verfall der Kommunistischen Partei ein. Mit dem Ende der politischen Repression verlor der sowjetische Staat das, was ihn bislang zusammengehalten hatte. Demokratische oder andere selbstregulierende Strukturen, die jetzt hätten Klammer sein können, gab es noch nicht — und gibt es noch immer nicht. Gorbatschow gehörte nicht zu jenen, die strahlende Siege erringen und die unterlegenen Feinde triumphierend in den Dreck treten. Er war auch kein Machtmensch, der oben bleibt, weil er sich der jeweils herrschenden politischen Richtung anschließt und sie dann besonders entschieden vertritt; er hatte eine Moral. Der Typus des Verhandlers und Kompromißlers ist unzeitgemäß geworden. Er ist effizient nur, wo es einigermaßen funktionierende Strukturen gibt und wo man es mit Kontrahenten zu tun hat, die ihrerseits zu Verhandlungen und Kompromissen bereit sind. Er ist vollkommen hilflos gegenüber jenen, denen es um Triumph oder Untergang geht, denen jede Relativierung ihrer eigenen Position als Verrat erscheint. Es ist den neuen Staaten nicht zu wünschen, daß sie nur zwischen Fanatikern, Populisten und skrupellosen Demagogen zu wählen haben. Irgendwann sollten sich die neuen Strukturen so weit entwickelt haben, daß der Politiker-Typus, den Gorbatschow darstellte, wieder eine Chance hat. Erhard Stölting