Wir brauchen einen UN-Wissenschaftsrat

■ Vitaly Goldanski, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR

Toshiki Kaifu: Bis jetzt waren Wissenschaft und Technologie von der Vorstellung geleitet, es gebe für sie keine Grenze. Diese Vorstellung ist heute erschüttert.

In welche Richtung sollten sie sich nach Ihrer Meinung jetzt orientieren? Oder meinen Sie, daß es möglich ist, ihre Widersprüche zu überwinden und ihnen neue, unbegrenzte Entwicklungsperspektiven zu geben?

Goldanski: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah man in der Wissenschaft ein Universalmittel gegen die Bedrohungen, die auf der Menschheit lasteten. Heute glaubt man eher das Gegenteil: Die Wissenschaft erscheint als Hauptgrund für die größten Übel, besonders für Katastrophen auf globaler Ebene, die mit der Zerstörung und Vergiftung unserer Umwelt zusammenhängen. „Ich will weder deinen Honig noch deinen Stachel, weder deine Rosen noch deine Dornen“, so könnte man das Verhältnis beschreiben, das Millionen von Menschen überall auf der Welt zur Wissenschaft haben.

Einige Schriftsteller unseres Landes haben rundheraus zur Rückkehr zu den Höhlen, zum Kerzenlicht und zur Ablehnung der Danaergeschenke der Wissenschaften aufgerufen. Man darf solche Ansichten weder vernachlässigen noch ausschließlich der Unwissenheit zuschreiben. Unser Land hat sehr lange den Slogan verkündet: Wir können nicht warten, bis die Natur uns ihre Gaben schenkt, es ist unsere Aufgabe, sie ihr zu entreißen. Ganz von selbst stellt sich die Analogie mit einer Stadt ein, die im Sturmangriff genommen wird und grausamen, ausgehungerten Rohlingen ausgeliefert ist, die unfähig sind, sich das Morgen vorzustellen. Die Wurzel für viele unserer heutigen Probleme liegt in einer solchen Sicht der Dinge.

Jaques Delors: Halten Sie es für möglich, daß weltweit ethische Regeln durchsetzbar sind, die es ermöglichen, die Anwendung wissenschaftlicher Entdeckungen besser zu regeln? Akzeptieren Sie als Wissenschaftler die Unterordnung der Wissenschaft unter die Ethik?

Goldanski: Ich halte es für unerläßlich, einen allgemein gültigen, moralischen Wissenschaftskodex zu entwickeln. Jeder junge Forscher, der seine Laufbahn beginnt, müßte einen Eid ablegen, ähnlich wie ein Arzt den Eid des Hippokrates, mit dem er sich verpflichtet, weder dem Menschen noch der Natur zu schaden. Es wäre gut, bei der UNO ein internationales Forum, einen Obersten Wissenschaftsrat, einzurichten. In ihm wäre die kollektive Weisheit der Menschheit inkarniert, und er könnte den Rat von allen Experten aus allen Bereichen von Wissenschaft und Technik einholen.

Ein solches Organ hätte die Kompetenz, die Grenzen zu definieren, die man bestimmten Forschungsvorhaben setzen müßte. Ich denke dabei an Bereiche wie Humangenetik und Humanembryologie, Gehirnchirurgie, Organtransplantationen, Methoden des Gedankenlesens und der Suggestion, die verdeckte visuelle oder audiovisuelle Observation von Menschen und vieles andere. Dieses Forum müßte auch in Konflikten entscheiden, wie sie heute zwischen Ökologie und Industrie entstehen, vor allem in der Energie- und Energiewirtschaft.

Ein hohes Maß an Unparteilichkeit und Kompetenz ist auch erforderlich, um zwischen den verschiedenen Vorschlägen zu entscheiden, die bei internationalen technischwissenschaftlichen Projekten miteinander konkurrieren: Raumflüge zu anderen Planeten, riesige Teilchenbeschleuniger, radioastronomische Installationen, Tiefenbohrungen, etc.

Abdou Diouf: In Afrika haben sich im Lauf der Jahrhunderte nützliche Kenntnisse angesammelt, die heute in der wissenschaftlichen Forschung und Technologie nicht genügend berücksichtigt werden. Wird es nicht endlich Zeit, ein großes, multidisziplinäres Laboratorium zu errichten, in dem das wissenschaftliche Erbe Afrikas entschlüsselt und bewertet wird?

Goldanski: Das internationale Wissenschaftsforum bei der UNO müßte Sektionen haben, die regional und nach wissenschaftlichen Disziplinen spezialisiert sind. Dieses wäre in der Lage zu entscheiden, wie man in Afrika ein interdisziplinäres, internationales Wissenschaftszentrum der Spitzenklasse schaffen kann, an dem die besten Wissenschaftler arbeiten. Ein solches Zentrum könnte unterschiedliche Anlagen für Solarenergie und Biomasse erforschen und ihre Anwendungsmöglichkeiten studieren.

Ich möchte betonen, daß das individuelle Gewissen des Wissenschaftlers die wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß das Vertrauen der Weltöffentlichkeit in die Wissenschaft wiederhergestellt wird. Genau dieses einfache menschliche Gewissen muß sich der Mißachtung der Moral widersetzen. Es muß den Versuchungen durch Eitelkeit, Gewinn oder Ehrgeiz widerstehen. Und unter Berufung auf ihr Gewissen werden die Forscher sich weigern, an kriminellen Forschungsprojekten, wie etwa an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen oder Anlagen mitzuarbeiten, die unserer Umwelt irreversible Schäden zufügen können.

Vitaly Goldanski ist Direktor des Moskauer Instituts für Physik und Chemie, eines der größten wissenschaftlichen Institute der UdSSR, und Abgeordneter des (mittlerweile funktionslosen) Volksdeputiertenkongresses der Union.