Liebe taz-Leserin, lieber taz-Leser,

genau wie letztes Jahr zu Weihnachten halten Sie auch heute wieder eine ungewöhnliche Ausgabe der „tageszeitung“ in der Hand. WORLD MEDIA, das zum dritten Mal erscheint, hat sein eigenes taz- Format, in jeder Hinsicht. Für die Zeit zwischen den Jahren (die nächste taz erscheint am 2.Januar) bieten wir Ihnen viel Lesestoff über „Die Welt der Entdeckungen“, dazu neue WORLD-MEDIA-Karten und bisher unveröffentlichte Science Fiction Stories.

Das Thema haben die 24 Zeitungen des weltweiten Verbundes WORLD MEDIA gemeinsam ausgewählt. An der Schwelle zum Kolumbusjahr 1992 fragen wir: Wie werden Forschungen und Entdeckungen unsere Welt in den nächsten Jahrzehnten verändern? Der Weg führt uns von der der Astronomie zur Gentechnik, von der Suche nach den Vorfahren des Menschen bis zur Energiegewinnung in Weltraumkolonien.

In einer Hinsicht geht es uns dabei nicht anders als Kolumbus. Jede neue Entdeckung — ob mit dem Teleskop oder dem Mikroskop — zerstört alte Illusionen und Denkmuster. Gleichzeitig wirft sie mehr neue Fragen auf, als alte beantwortet werden. Je näher wir den Geheimnissen von Universum, Evolution und Materie kommen, desto größer wird unsere Unwissenheit. Sicher Geglaubtes wird wieder infrage gestellt: Was ist Leben? Hat es wirklich einen Urknall gegeben? Fand die Evolution zum Menschen tatsächlich in Ostafrika statt? Ist Chaos der eigentliche Ordnungsfaktor der Natur?

Es scheint ein Paradox: Mit dem Voranschreiten der Wissenschaft wurde zwar ein kaum noch überschaubares Faktenwissen angehäuft, der Lösung der drängendsten Probleme von Mensch und Umwelt aber hat uns das kaum näher gebracht. Es gelingt nicht, wie der Technologiekritiker Wolfgang Sachs für WORLD MEDIA schreibt, neue „Werkzeuge“ so in unsere Umwelt einzubauen, daß die Wahlfreiheit, unser Leben zu gestalten, erhalten wird. Was wir mit Hilfe neuer Technologien an Freiheit gewinnen (zum Beispiel durch Schnelligkeit), verlieren wir in der anderen Richtung: Die Möglichkeiten, Pausen einzulegen, das Tempo auch wieder zu drosseln, nehmen ab.

Warum werden neue Erkenntnisse nicht so in Technologien — und die in gesellschaftliche Realität — umgesetzt, daß das Gefälle zwischen Nord und Süd verringert wird, daß der „Planet als Organismus“ (wie ihn der britische Chemiker James Lovelock sieht) funktionieren kann? Die Technik und ihre finanzielle Verwertung bestimmen auch das kulturelle Umfeld.

Dabei wären Vorgaben der Gesellschaft hier nötiger als je. Denn wie sich in der Naturwissenschaft der Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt erschöpft hat, so haben auch die kritischen Sozialwissenschaften ihre unilinearen Utopien ausgeträumt, ihr Zielhorizont ist offener denn je. Sind heute die Gentechniker und die verlautbarenden Politiker die einzigen, die noch daran glauben, Menschheitsprobleme in den Griff zu bekommen — nämlich per Technologie? WORLD MEDIA hat fünf prominente Wissenschaftler und fünf Staatschefs (Gorbatschow noch eingeschlossen) sich gegenseitig befragen lassen: zur Verteilung des Wissens zwischen Nord und Süd, zu seiner Verwendung in Wirtschaft und Politik, zur Ethik in der Forschung selbst. Ein Ergebnis: Grundlagenforschung kann nicht weltweit administrativ oder durch Gesetz beschränkt werden. Aber ihre Richtung und die Umsetzung in Technologien werden natürlich durch den staatlichen Geldsegen entscheidend beeinflußt. Welche Entwicklungspfade werden gewählt — und welche bewußt ausgeschlossen? Welche Kultur schaffen wir uns mit ihnen? Sind wir in der Lage, unsere „Werkzeuge“ auch wieder wegzulegen? Bisher sieht es nicht danach aus.

Kolumbus hat Amerika für Europa entdeckt. Die Perspektive bestimmt immer derjenige, der eine Entdeckung „ausbeutet“ oder, heutzutage, sie patentiert. Wenn wir, der industrialisierte Norden, Forschung und Entwicklung monopolisieren, dann „wiederholen wir den Fehler von 1492“, meint deshalb UNESCO-Generalsekretär Federico Mayor im Interview mit WORLD MEDIA. Die Zukunft wird dieses Monopol weiter stärken, wie der französische Aidsforscher Luc Montagnier in seinem Text zeigt: für die Krankheiten des 21.Jahrhunderts werde man „wunderbare Lösungen finden — aber auch extrem kostspielige“. Wenn sich die Erste Welt nicht zum Umdenken entschließt, wird das Aidsmedikament, das Montagnier für das Jahr 2000 erwartet, dort nicht zu haben sein, wo die Krankheit sich am schnellsten ausbreitet: in Afrika.

Die neuen Welten, die zu entdecken und zu nutzen wir uns anschicken, sind weder gut noch böse. Computer, Glasfaserkabel oder Cyberspace sind weder der Gipfel der Entfremdung noch Anlaß zu ungetrübter Euphorie. Entscheidend ist der Einsatz der Phantasie, um auch mit der Widersprüchlichkeit der Technik umzugehen. Die Fähigkeit und Möglichkeit des Menschen, seine Werkzeuge zu kontrollieren. Und auch Nein zu sagen.Michael Rediske