DDR-Aufarbeitung: Letzter Sieg der Stasi?

■ Ab heute kann jeder seine Stasi-Akte bei der Gauck-Behörde einsehen/ Interview mit dem Schriftsteller und DDR-Oppositionellen Lutz Rathenow über die Ängste vor der Stasi-Aufarbeitung/ »Differenzierte Kriterien der destruktiven Wirksamkeit gegenüber anderen Personen sind nötig«

taz: Ab 1. Januar kann jedermann seine Akten bei der Gauck-Behörde einsehen. Jetzt sind es nicht mehr allein die Personen der Zeitgeschichte, sondern jeder muß befürchten, daß in seinem persönlichen Umfeld Informationen über ihn gesammelt worden sind. Fängt jetzt die Aufarbeitung erst richtig an?

Rathenow: Es gibt vier Millionen Akten über DDR-Bürger. Über acht Millionen Erwachsene wurden nicht allzuviel Informationen gesammelt. Deshalb wird sich die Diskusion rasch versachlichen. Sie wird konkreter werden. Es werden sich noch einige besondere Schäbigkeiten und Gemeinheiten offenbaren. Andere Dinge wird man relativieren, und auch die Personen, die als Spitzel tätig waren, wird man dann sehr differenziert betrachten.

Wird es ein Prozeß sein, der Wut, Emotionen und Verletztheiten mit sich bringen wird, wie es der stellvertretende SPD-Vorsitzende Thierse in der taz sagte, und dennoch unvermeidbar sein?

Die Emotionen und die Wut, die sind seit jeher vorhanden. Was ich an Wutausbrüchen zum Thema Staatssicherheit schon vor dem Fall der Mauer erlebt habe, ist nur graduell verschieden von dem, was man jetzt erlebt. Also ist es falsch, zu sagen, die Staatssicherheit zerstört jetzt erst Leben. Das bereits Gestörte und in einigen Fällen Zerstörte tritt jetzt zutage. Anders geht es nicht. Man wird pragmatisch lernen, damit umzugehen: Zur Analyse von Strukturen gehört eben auch, daß eine Spitzeltätigkeit immer ein Vertrauensbruch und ein Verrat an Freunden darstellt. Andererseits muß man immer die Geschichte des einzelnen Menschen differenzierter nachvollziehen. Das heißt, man wird auch eine ganze Menge verstehen und einsehen und vielleicht auch Leute, die man zu Unrecht verdächtigt hat, dann als Nicht- IMs erkennen.

Sie widersprechen der Ansicht, daß eine Aufarbeitung der Vergangenheit eine Verlängerung der Macht der Stasi darstellt. Verbirgt sich hinter derartigen Äußerungen die Sorge von Menschen, daß es nun eben nicht mehr die Leute in der ersten Reihe, die de Maizières und Schnurs trifft, sondern es auch im ganz persönlichen Bekanntenkreis plötzlich Spitzel gibt?

Es wird schon noch einige Leute in der ersten Reihe geben. Vor allem auch ein paar in den alten Bundesländern. Von den Opfern ist keiner verpflichtet, seine Akten sehen zu wollen. Eine Nötigung wäre nicht zu verantworten. Aber wer sich darauf einläßt, bricht mit der Macht der Staatssicherheit. Ich merke es bei den literarischen Diskussionen, daß einfach Dinge zutage treten, die man sonst verschwiegen hat. Plötzlich erhellen sich einige Ursachen dieser Differenzen und Spannungen, die nicht nur im Persönlichen und in der Mentalität oder im Charakterlichen liegen, sondern die manchmal ganz handfest staatlich organisierte Ursachen haben.

Wird nicht das Bekanntwerden der heimlichen Bespitzelung von Vera Wollenberger durch ihren Mann bei vielen Menschen die Ängste verstärken und sie sagen lassen: »Jetzt muß Schluß sein, das muß ich gar nicht wissen.«? Wird das nicht Wasser auf die Mühlen derer sein, die aus ganz verschiedenen Interessenslagen sagen, jetzt müsse Schluß sein mit der Aufarbeitung?

Wenn das so wäre, dann hätte die Staatssicherheit zu Methoden des psychologischen Drucks gegriffen, die für eine Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr analysierbar und nicht mehr nachvollziehbar wären. Dann hätte die Staatssicherheit im nachhinein gesiegt. Dann wäre sie nämlich unserer Fähigkeit zur Aufklärung und Vergegenwärtigung und Analyse und damit auch dem Verhindern einer Wiederholbarkeit solcher Dinge überlegen gewesen. Daran möchte ich eigentlich nicht glauben. Die Tragik im Fall Vera Wollenberger zeigt immerhin eines. Der Knud Wollenberger zählte — das zeigt der Befehl zur Vernichtung seiner Akte — zu den bedeutendsten Spitzeln. Wenn man aber weiß, daß er ein wichtiger Mann war, aber keiner, der wirklich in der ersten Reihe der Opposition stand, deutet dies doch auch an, daß sich die ganz spektakulären Enthüllungen in den Kreisen der politischen Opposition allmählich erschöpfen. Die Leute werden in den nächsten Monaten erkannt sein. Insofern wird dort die Diskussion sehr rasch sehr viel sachlicher werden. Wo man sich bis zuletzt dagegen sperrt — und ich merke dies besonders unter Schriftstellern —, verschleppt man natürlich diese Spannung. In einer gewissen Weise wirken die Desinformationsstrategien dann in die Zukunft fort.

Das heißt, es wird in bestimmten Berufsgruppen zu besonderen Beunruhigungen kommen?

Ich sehe es ganz praktisch. Ob der Handwerker, der mir die Wasserleitung repariert hat, bei der Staatssicherheit war oder nicht, berührt mich ziemlich wenig. Das heißt auch, daß ein generelles Einstellungsverbot für ehemalige Mitarbieter der Staatssicherheit oder für IMs im öffentlichen Dienst auf Dauer nicht haltbar sein kann. Differenzierte Kriterien der tatsächlichen destruktiven Wirksamkeit gegenüber anderen Personen sind auch hier nötig. Dann gibt es einige Berufsgruppen, die vom Vertrauen anderer Menschen zu ihnen leben, beispielsweise Psychologen, kirchliche Mitarbeiter, Ärzte und Schriftsteller auf eine ganz vielfältige Art auch. Wenn sich herausstellt, daß solche Berufsgruppen besonders intensiv angegangen wurden, weil man sich Informationen über schwache Menschen erhoffte — über Menschen, die man dann um so leichter anwerben konnte — dann wird das schon mindestens ein Gespräch über die Ehre dieses Berufsstands auslösen müssen. Ich hoffe, daß jetzt wirklich interessierte Menschen eine Basisforschungsarbeit leisten können. Auch wenn das nur ein Prozent der Bevölkerung macht, ist das wirklich eine einmalige Möglichkeit, von unten herauf anhand eigener Fälle ein Stück Geschichte zu schreiben und damit die Repressionen ganz konkret faßbar zu machen. Ich sehe darin eine Möglichkeit, Machtmechanismen transparent zu machen.

»BND war Zulieferer für die Ostdienste«

Herrscht unter der Bevölkerung der ehemaligen DDR nicht zugleich ein gewisser Trotz gebenüber der Aufarbeitung, weil es wieder die Westler sind, die ihnen die Kriterien zur Wahrheitsfindung, zur Frage, was Schuld ist und was Wahrheit, vorschreiben?

Um bestimmte Arten von Betroffenheiten und Verstrickungen nachzuvollziehen, ist es schon ganz gut, wenn man den Blick von innen hat und wenn man dabei war. Andererseits fehlt den Betroffenen die Distanz. Der erhellende, klärende Blick von außen ist mitunter außerordentlich wichtig. Diese Aufarbeitung kann man sowieso nicht blockieren. Ohne dieses neue Gesetz würde es bröckchenweise geschehen. Es würden sich nur die Mißverständnisse neben den wahren Enthüllungen weiter potenzieren.

Mich interessiert, zu bestimmten Punkten zu kommen wie dem Literaturstreit. Dabei geht es nicht nur um Schriftsteller und Künstler in der DDR, sondern auch um den Einfluß der Multiplikatoren dieser DDR- Kunst in der Bundesrepublik, um die Rolle des Westens als systemstabilisierenden Faktor für die DDR in den letzten Jahren, also Westgeld, Westreisepaß, Westanerkennung als Lohn — direkt und indirekt. Wenn es konkret wird, kommen wir schnell zu Dingen, die keine DDR- Probleme mehr sind, sondern die die Bundesrepublik genauso betreffen. Deswegen bin ich dafür, auch dort unbequeme Fakten zu enthüllen, obwohl das schwerer sein wird. Übrigens wäre eine Geschichte der Aktivitäten bundesdeutscher Geheimdienste in der DDR auch interessant. Ich rechne da mit einem Fiasko. BND und Verfassungsschutz sind für mich — bis zum Beweis des Gegenteils — nur Zulieferer für die Ostdienste gewesen.

Können die Westdeutschen überhaupt nachvollziehen, wie das Leben in der DDR war und was deswegen Schuld oder lediglich den Lebensverhältnissen geschuldet war? Müssen die Maßstäbe der Wahrheitsfindung nicht von den Ostdeutschen entwickelt werden?

Die Westdeutschen müssen die Differenzen im Leben begreifen, daß es in den vierzig Jahren DDR eine ganz spezielle Form von posttotalitärer Herrschaft gab, die ganz spezifische Erscheinungsformen ausgeprägt hatte, die man nicht einfach mit einigen Schulklischees über den Kommunismus abhaken kann. Hier haben Menschen ihr Leben verbracht, ihre ganzen Energien in die Gesellschaft oder ihre Ränder oder im Kampf gegen den Staat eingesetzt. Das verdient natürlich Analyse und Respekt. Ich plädiere deshalb für eine Aufarbeitung der Geschichte auch, weil ich in den Akten des MfS nicht nur irgend etwas Schmuddliges sehe. Das ist eine Wortquelle von Geschichte. Das ist nun einmal ein Teil unserer ganz speziellen Erfahrungen. Was da verschriftet worden ist, ist auch eine Chronologie zivilen Ungehorsams aus der Herrschaftsperspektive! Wenn wir nüchterner an dieses Material herangehen, kann das sogar die Quelle eines bestimmten Selbstbewußtseins werden. Denn es geht um die Fähigkeit, auch heutige Ereignisse durchschauen zu können. Wenn ich an solche Fälle wie Wollenberger denke oder Böhme oder Anderson, muß ich sagen, da sind Schicksale geschaffen worden. Schicksale mit einer Verdrängungsblockade und einer Verdrängungsenergie der Betroffenen, die weitreichende Fragen aufwerfen. Vielleicht kann nur über solche Schicksale manchem Bundesbürger klargemacht werden, wie verrückt, verworren und andererseits klar und geordnet das Leben in der DDR war und wie sehr seine Geschichte mit der DDR verknüpft war.

Chronologie des zivilen Ungehorsams

Überall aber scheint der Unwille an der Aufarbeitung zu wachsen. Ist es alarmierend, daß immer öfter zu hören ist, man habe gar nichts gegen einen IM — Verharmlosung als Strategie des Drückens vor der Vergangenheit?

Das beobachte ich besonders in Kreisen, die nah dran sind an dem Problem. Als eine ganz simple Schutzfunktion. Aus dem »Interessiert mich nicht« spricht Angst. Wer dem gegenüber wirklich gleichgültig ist, heuchelt eher Interesse. Leute wie ich müssen sich dabei als Außenseiter fühlen. Wer sich früher gewehrt hat, wirkt heute fast wie ein lebender Vorwurf. Aber ich kann auch ganz gut mit einem Zeitgeist leben, gegen den ich anschreiben will. Dieses »Interessiert mich nicht« wird schon von der nächsten Generation nicht mehr akzeptiert werden.

Das Gespräch führte

Gerd Nowakowski