KOMMENTAR
: Wahrheit ist nicht alles

■ Mit den Stasi-Akten werden die Menschen alleingelassen

Mit dem Sturm auf die Stasi-Zentrale vor zwei Jahren hatte der laue Auflauf vor der Gauck-Behörde nichts gemein. Die angestaute Wut, die sich Ende 1989 im Augenblick entladen wollte, ist verraucht, die Menschen haben Zeit gehabt zum Nachdenken. Viele werden sich nun doch dafür entscheiden, nicht wissen zu wollen, ob und von wem sie bespitzelt wurden. Denn die Archive zu öffnen ist nur der Anfang. Der zweite Teil der Aufgabe ist noch zu bewältigen. Offen ist, was mit den Ergebnissen geschieht und wie Schuld gesühnt werden soll. Derzeit werden die Menschen nämlich mit dem Wissen alleingelassen, das sich aus den Akten enthüllt.

Es müssen nicht die Bilder von Familien bemüht werden, die durch die aufgedeckten Spitzeleien eines Partners zerstört werden. Es reicht der alltägliche Fall, daß Menschen durch Denunziation lebenslang unter dem System leiden mußten und um einen befriedigenden Beruf, um eine Karriere gebracht wurden. Sie erfahren nun, wer für ihren desaströsen Lebensweg verantwortlich war. Diese Menschen aber können weder auf Entschädigung noch Gerechtigkeit hoffen. Denn so paradox es klingt: wer nicht im Knast gesessen hat, wer »nur« fertiggemacht wurde, hat keinen Anspruch auf Entschädigung. Und wie kann diesen Menschen Gerechtigkeit widerfahren? Das Opfer kann sein verkorkstes Leben wohl kaum mit der zufriedenen, möglicherweise mit Wohlstand und Haus belohnten Existenz des Denunziators tauschen. Mit den Regeln des Strafgesetzbuchs aber ist den Bespitzelungen und Überwachungen nur dann beizukommen, wenn sie selbst nach altem DDR-Recht als kriminelle Handlung galten. Das wird die seltene Ausnahme sein. Juristische Winkelzüge wiederum — daß Stasi-Obere nur wegen des Griffs in die Portokasse, nicht für ihre jahrzehntelangen Terrorhandlungen verurteilt werden — sind eine Ohrfeige für die Opfer. Internationale Kriterien wie die Verletzung der Menschenrechte zu bemühen, wird ebenfalls nicht tragen. Die Nürnberger Prozesse bedurften das Diktat der Siegermächte. Wo die Mittel der Justiz versagen, bleibt nur der Weg eines politischen Prozesses, eines Tribunals, in der Verantwortliche verantwortlich gemacht werden — auch wenn es nur ein symbolischer Akt sein kann. Nur auf diesem Weg kann die DDR-Geschichte aufgearbeitet werden. Derzeit bleibt wohl nur, der Gauck-Behörde eine Unterabteilung psychologische Beratung für Antragsteller anzugliedern: »Wie lebe ich mit den Ergebnissen«. Gerd Nowakowski