Indien: Zerfall nach Sowjetmuster?

■ Die Allindische Union ist keine „heilige Kuh“ mehr/ „Bildet einen Commonwealth!“ fordern die einen, Chaos und Gewalt fürchten die andern/ Bereits heute gibt es im Riesenreich tiefe Risse

Neu Delhi (afp) — „Desintegrierung nach sowjetischer Art, wenn Indien die Harijans (die Unberührbaren) nicht besser behandelt“, forderte eine indische Tageszeitung zu Jahresende. „Bildet einen Commonwealth, um die religiösen Eigenheiten zu schützen!“ titelte eine andere. Ähnlich provokative Töne im 'Sunday Observer‘. Der druckte letzten Sonntag sogar über zwei Seiten seines Innenteils die Balkenzeile: „Sollte Indien auseinandergebrochen werden?“ Darunter wurden im Detail die Pros und Kontras einer Staatengemeinschaft ähnlich der GUS dargelegt.

Aber nicht nur in den öffentlichen Medien hat eine für Indien revolutionäre Diskussion begonnen. Politiker aller Schattierungen haben schnell auf die Bildung der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) in der Ex-UdSSR reagiert. Die einen sehen darin eine Bedrohung, andere meinen: Indien müsse sich dezentralisieren, bevor es zu spät sei.

Noch vor einem Jahr wäre eine solche Debatte undenkbar gewesen. Eine festgeschlossene Union gehörte mit zu den „heiligen Kühen“ in der indischen Politik. Das Trauma der blutigen Teilung des Subkontinents von 1947 in Indien und das moslemische Pakistan war der historische Hintergrund für die bisher unbeugsame Haltung Neu Delhis. Dennoch: Das Land ist bereits heute von tiefen Rissen durchzogen.

Die offenkundigsten „Kandidaten“ für eine Abspaltung sind Punjab und Kashmir im Nordwesten und Assam im äußersten Osten. In diesen Staaten toben blutige Unabhängigkeitskämpfe, die fünfzig Prozent der Kräfte der indischen Armee binden, wie die Militärs selbst zugeben. Bezeichnenderweise war es ein aus Punjab stammender Sikh-Politiker, Prakash Singh Badal, der die Regierung aufforderte, Indien in einen Commonwealth autonomer Staaten nach dem Muster der ehemaligen UdSSR umzuwandeln.

Im 'Sunday Observer‘ warnte sogar der ehemalige Minister Ram Vilas Paswan vor einer endlosen Kette der Gewalt: Es werde solange Gewalt zwischen Kasten und Religionsgruppen sowie blutigen Separatismus einzelner Volksstämme geben, wie Neu Delhi die Minderheiten vernachlässige und die Regierung von den Brahmanen, der höchsten Hindu-Kaste, dominiert werde.

„Im akademischen Sinne war Indien vorher (vor der Kolonialherrschaft) kein zusammenhängendes Land; aber andererseits, gab es denn wirklich ein unabhängig gewordenes Land auf der Welt, daß schon vorher ein Land war?“ schrieb M.J. Akbar, ein Politiktheoretiker aus den Reihen der Kongreß-Partei. Mit dieser rhetorischen Frage wies er das Argument zurück, daß Indien eine künstliche Schöpfung der Briten sei.

„Selbstverständlich sollte Indien eins bleiben“, findet auch der Historiker Ravinder Kumar. Eine Aufteilung des Landes würde die Gewalt nicht nur nicht beenden, sondern im Gegenteil ihr verstärktes Aufflammen in allen möglichen Landesteilen bewirken. Jedoch stimmte er dem kommunistischen Parlamentsabgeordneten Subhashini Ali zu, der meint: „Wenn Indien eins bleiben soll, dann muß es aber seine Strukturen lockern. Ansonsten sehe ich ein bedrohliches Ausweiten der Risse im Staate voraus.“

Im gleichen Sinne argumentierte der Leitartikler Swapan Dasgupta aus Kalkutta in der 'Observer‘-Debatte. Die meisten Inder möchten, daß das Land vereint bleibe, würden aber fühlen, daß Veränderungen nötig seien. Es sei die „Überzentralisierung, die die Leute in Assam dazu veranlaßt, der ULFA (der separatistischen Vereinigten Befreiungsfront von Assam) beizutreten“, sagte Dasgaptu. Sogar der 70jährige Premierminister P.V. Narasimha Rao, der im abgelaufenen Jahr mit seiner Abkehr von Jahrzehnten sozialistischer Politik erstaunte, scheint den neuen Trend erfaßt zu haben. Am letzten Wochenende schickte er die Regierungschefs der Unionsstaaten nach einem zweitägigen Treffen mit den Worten nach Hause: „Sagen Sie mir, was die Bundesstaaten benötigen, fragen Sie nicht, was das Zentrum braucht.“ Kate Webb