Die Stasi war gefährlich, dilettantisch und prüde

■ Lutz Rathenow, Ostberliner Schriftsteller, studiert seit zwei Tagen seine Stasi-Akten/ Spannend und nicht erschütternd/ Die Akte jedes Bespitzelten hat eine eigene Ordnung/ Liebe war für die Geheimdienstler nur eine funktionale Größe

taz: Sie haben gestern Ihre Stasi- Akten angeschaut. Was ist Ihr erster Eindruck?

Lutz Rathenow: Zunächst einmal: es ist gar nicht so einfach, sich einen Überblick zu verschaffen, was da vorliegt. Ich habe 15 Akten, die jeweils 300 und mehr Seiten haben. Fest steht nach laufender Registratur, daß wohl fünf bis sieben Akten nicht da sind. Es fehlt sehr viel von '87 bis '89, es ist nichts da bis zum Herbst 1980. Dann gibt es noch Telefonmitschriften, die wieder in anderen Bänden protokolliert sind und mehrere zehntausend Seiten haben sollen. Gestern habe ich interessanterweise von Nebentischen immer mal wieder Berichte aus Akten anderer Leute gezeigt bekommen, die ausschließlich von mir handeln und die in meinen Akten nicht vorkommen. Also klar ist: es gibt nicht „meine Akte“. Die Aufzeichnungen über mich unterscheiden sich erheblich von denen der anderen, mehr politisch Involvierten. Da hat man immer versucht, Gruppenstrukturen zu erfassen mit möglichst vielen Spitzeln, während die Staatssicherheit bei mir in einem höchst kuriosen Dauerclinch in meine literarische Arbeit verstrickt ist.

Wenn Sie Ihr Leben in den Geheimdienstakten gespiegelt sehen, wie geht es Ihnen dabei?

Wenn man während der DDR- Zeit mal eine Nacht in einen Raum geführt worden wäre und gesehen hätte, was da alles aufgezeichnet wurde, dann wäre das ein schwer zu verwindender Schock gewesen. Vom Ende her gesehen, habe ich das relativ gelassen gelesen — mit viel Neugier. Ich find's spannend, gleichzeitig nicht erschütternd. Es gibt sehr viele überraschende Details, allerdings weniger in den Bereichen, in denen ich es dachte.

Ich stoße auf wenige IMs und habe den Eindruck, daß viele entfernt worden sind. Ich stoße auf das ständige Bemühen, neue IMs auf mich anzusetzen. Was mich überrascht, sind die intensiven Anstrengungen des Staatsapparates, den Einfluß meiner Arbeit zu analysieren und dem entgegenzuwirken. So gibt es zu dem Ost-Berlin-Buch bereits vor seinem Erscheinen mehr Seiten Text, als das Buch selbst hat. Im übrigen ist es nicht ganz meine Biographie; ich fühle mein Leben dort nicht verzeichnet, ich fühle bestimmte Seiten meines Lebens herausgelöst — andere Seiten berührt es gar nicht.

Erschließen sich Ihnen aus Ihrer Akte Ereignisse, die Sie früher nicht einschätzen konnten?

Ja, ein paar Dinge haben sich erschlossen. Vorher habe ich mich gefragt, ob es sich lohnt, mehr als zwei Tage in die Akten zu investieren. Es lohnt sich. Aber ich muß mir überlegen, wieviel Lebensenergie ich investieren will.

Gibt es auch Dinge, von denen Sie gedacht hätten, daß die Stasi Bescheid wußte und die sich nicht in den Akten finden?

Ich habe die Ahnung, daß sich in den Akten sehr viele Dinge nicht finden. Ich bin überrascht, daß die Staatssicherheit zum Beispiel nichts wußte von meinem intensivsten Westkontakt, den ich streng konspirativ gehalten habe. Selbst eine Wohnung, wo ich regelmäßig Pakete abholte, die unter Umgehung der Zollvorschriften die DDR erreicht hatten, ist offenbar nicht erfaßt worden. Wenn sich das bestätigt, ist die Staatssicherheit nicht nur gefährlich, eifrig und übergenau, sondern auch noch überaus dilettantisch gewesen.

Wie sind die Akten aufgebaut?

Die Akten jedes einzelnen haben eine eigene Struktur, eine eigene Rhythmik. Bei mir tauchen zum Beispiel ganz viele Kontakttreffberichte mit Journalisten auf, mit Datum und kurzer Einschätzung. Das gibt es bei Eppelmann gar nicht. Dann tauchen Personenbeschreibungen auf von Leuten, mit denen ich gesehen wurde, Leute die sie nicht kennen. Es dauert zum Beispiel eine Weile, bis sie den Dichter Kolbe identifiziert haben, obwohl Fotos von ihm drinliegen. Es gibt eine Beschreibung meines Wohnzimmers, Radiointerviews und verschiedene Fassungen meiner Gedichte und Prosatexte, dazu Gutachten zur Kriminalisierung meiner Texte. Außerdem finden sich Briefe — Originale und Kopien, IM-Berichte, Einschätzungen und Maßnahmenpläne. Ich habe das Gefühl, sie derart beschäftigt zu haben, daß ich jetzt im nachhinein fast darüber lachen muß. Die Akten zeigen aber auch: Es gibt einen Raum des Denkens und Handelns, den sie nicht niedergeschrieben haben. Also zum Beispiel die Frage bei einer Vernehmung 1980, ob ich mit meiner Lektorin geschlafen habe, taucht nicht auf. Sie sind überhaupt überraschend prüde — und bar jeder Intimität. Ich glaube jetzt auch, daß für sie die Anwerbung von Ehefrauen oder -männern kein intimes Problem war, weil sie von einer Denkhaltung ausgehen, die Individualität ausschließt. Liebe ist für sie nur so ein rationaler Schlüssel, was der Befriedigung objektiv notwendiger sexueller Bedürfnisse oder sowas dient. Es verbirgt sich eine Haltung dahinter, die zutiefst zynisch und menschenfeindlich ist.

Was ist in den Akten geschwärzt?

Geschwärzt ist nichts. Es werden nur Seiten verdeckt, die die schutzwürdigen Interessen Dritter betreffen. Bei mir haben sich — zufällig — zwei dieser verdeckten Seiten angehoben. Ich hatte den Eindruck, daß es nicht notwendig wäre, sie zu verdecken: ich kann in meiner Akte nichts entdecken, was jemandem peinlich sein könnte — außer den Spitzeln. Bei Kopien allerdings wird geschwärzt. Ich frage mich aber, ob zum Beispiel Namen wie Klaus Höpke [Ex-Kulturminister der DDR, d.Red.] und solche Leute nicht als Personen der Zeitgeschichte stehenbleiben müßten. Ich plädiere deshalb dafür, das Gesetz an diesen Stellen umzuformulieren.

Wenn Sie einen IM in Ihrer unmittelbaren Umgebung finden sollten — wie würden Sie damit umgehen?

Das hängt davon ab, was er jetzt macht. Wenn zum Beispiel jemand Schriftsteller ist oder sonst von öffentlichem Interesse, sollte das veröffentlicht werden. Der juristische Weg taugt nicht für die IM-Problematik, auch wenn ich verstehe, wenn Leute diesen Weg versuchen werden. Ich glaube, daß am Schluß die Staatssicherheit entmystifiziert, nicht entlastet sein wird. Interview: W. Gast/A. Jensen