Die veränderte Landkarte

Berlin (taz) — Wer sich in den letzten Monaten die „Tagesschau“ angeschaut hat, dem werden die kleinen Veränderungen an den Landkarten im Hintergrund des Nachrichtensprechers sicher aufgefallen sein. Europa reicht wieder bis zum Ural, und im Nordosten Polens sind entlang der Ostsee vier neue Grenzumrandungen entstanden. Dazu kommen der gußeiserne UdSSR-Ersatz und Stalin-Erbfolgestaat Georgien. Die TV-Glotzer werden gleich aufschreien: Es gibt doch nur drei neue baltische Staaten: Litauen, Lettland und Estland. Aber es stimmt trotzdem, es gibt vier umgrenzte Gebiete.

Also machte ich mich auf den Weg und fragte einige Leute, was denn jenes vierte unbekannte Gebilde sei. SchülerInnen zwischen zehn und 15 Jahren hatten keine Ahnung. Sie rieten mir, ihre Lehrer zu fragen. Die Karten, mit denen unterrichtet würde, seien eh dieselben wie im letzten Jahr. Die hätten noch nicht einmal gemerkt, daß Deutschland vereinigt sei. Die von mir angesprochenen Erwachsenen fühlten sich verhohnepipelt und suchten nach meinem filmenden Begleiter. „Vorsicht Kamera, wa?“ Lediglich ein alter Glatzkopf wußte Bescheid. Er grüßte mich gleich mit „Heil Hitler“. So genau wollte ich es denn auch nicht wissen.

Nach diesem Reinfall wollte ich die Sache etwas gründlicher angehen und fragte beim Senator für Schulwesen nach, was denn die armen LehrerInnen machen sollten, um den Kindern — in der siebten Klasse müssen sich die Kinder mit den europäischen Staaten beschäftigen — die sich ständig verändernden Grenzen näherzubringen. Ich landete mit meiner Frage bei einem Herrn Ungruh und erntete Spott und Hohn. Man gehe davon aus, daß die Berliner LehrerInnen verantwortungsbewußt genug seien, den Kindern diese doch erfreulichen Entwicklungen in Europa objektiv zu erläutern.

Danach setzte ich mich ans Telefon und klingelte die Schulen durch. Dort war dann zumindest ein Problembewußtsein vorhanden. Man habe in den Fachkonferenzen noch nicht darüber gesprochen. Den Siebtkläßlern seien solch schwierige Prozesse, wie sie sich gerade in der Sowjetunion oder in Jugoslawien abspielten, kaum zu vermitteln. In der Oberstufe wäre das schon einfacher. Da werde natürlich darüber geredet. Einige Argumente, die recht häufig genannt wurden, gaben mir dann doch zu denken: „Wir haben ja keine Arbeitsblätter. Die Karten sind veraltet. Geld für neue ist nicht vorhanden. Es gibt noch keine neuen Folien für die Overheadprojektoren.“ Meine Vorurteile gegenüber dem Berufsstand der Lehrer waren wieder einmal bestätigt: Für den Lehrkörper reduziert sich das Verantwortungsbewußtsein auf den Ruf nach Arbeitsblättern.

Immerhin brachte mich dieses Klagen der LehrerInnen auf die Idee, mal bei den Schulbuchverlagen nachzufragen, wie die denn auf die veränderte Situation reagierten. Und siehe da, hier fühlte ich mich das erste Mal verstanden. „Es freut mich, daß sie nicht gleich drauf losschreiben und unsere alten Lehrbücher kritisieren, sondern sich erst einmal bei uns informieren“, erfuhr ich bei der Berliner Außenstelle des Braunschweiger Westermann Schulbuchverlages. Das sind die vom Diercke Weltatlas. Mir wurde ganz warm ums Herz. Die Produktion einer neuen Europakarte habe man stoppen müssen, um sie den neuen Gegebenheiten anzupassen, hieß es aus dem Verlag. Man könne zwar die Schulbücher nicht so schnell aktualisieren, biete aber in Form von mehreren monatlichen Journalen wie 'Geographische Rundschau‘, 'Praxis Geographie‘ und 'Praxis Geschichte‘ den Lehrern schwerpunktmäßig aktuelles Zusatzmaterial — Analysen und didaktische Hilfen — für den Unterricht an. So beschäftigt sich die Novemberausgabe der 'Geographischen Rundschau‘ mit Ost- und Mitteleuropa. Daß die LehrerInnen diese Möglichkeit auch nutzen und auch bereit sind, dafür runde zwölf Mark zu berappen, darauf weist die Tatsache hin, daß die Hefte 'Praxis Geographie‘ zu den Themen Sowjetunion und Südosteuropa in Berlin vergriffen waren.

Beim zweiten Verlag, der an den Berliner Schulen präsent ist, dem Schroedel Schulbuchverlag, mußte man auf mein Nachfragen passen. Man sei froh und stolz, daß man für dieses Schuljahr vernünftige Deutschlandkarten in den Atlanten habe. Zusatzinformationen für Lehrkräfte gäbe es nicht. Einen anderen Weg geht der Klett Schulbuchverlag aus Stuttgart. Er versendet kostenlos an LehrerInnen die Klett Schulbücher, im Unterricht verwenden sie ein Heftchen namens 'Terra Press‘. Die Ausgabe 5/91 beschäftigt sich mit dem Thema Ost- und Südosteuropa im Wandel. Allerdings reduziert sich der Inhalt zu 80 Prozent auf das Nachdrucken von 'FAZ‘-Artikeln und Globusgrafiken.

Zum Schluß noch die Antwort auf die Frage nach dem vierten Staat. Den gibt es natürlich nicht. Das Gebiet zwischen dem Nordzipfel Polens, der Ostsee und Litauen ist das Gebiet um Kaliningrad, eine Exklave der Russischen Republik. Peter Huth