Meister der Anleihe

■ Zum Tod Ernst Kreneks

Der Komponist Ernst Krenek, kurz nach der Jahrhundertwende in Wien geboren, darf als künstlerisches Echolot des Jahrhunderts gelten. Mit kantigen, scharf atonalen Stücken machte er früh auf sich aufmerksam. Durch ein erstes Streichquartett, uraufgeführt beim Deutschen Tonkünstlerfest 1921 in Nürnberg, und seine erste Symphonie, 1922 in Donaueschingen herausgebracht, wurde er als „zorniger junger Mann“ eingestuft. In der Schweiz, in Kassel und Wiesbaden sammelte Krenek von 1923 an Theatererfahrung: Der Einakter Die Zwillinge erblickte 1924 in Berlin das Licht der Bühnenwelt; noch im selben Jahr folgte in Frankfurt Der Sprung über den Schatten. Diese beiden Opern wurden 1989/90 in Bielefeld durch John Dew und Gottfried Pilz „reaktiviert“ und riefen in Erinnerung, was 65 Jahre zuvor auf der Höhe des Zeitgeistes war.

Erenst Krenek studierte bereits als Sechzehnjähriger bei Franz Schreker, dem er am Anfang der Weimarer Republik von Wien nach Berlin folgte. „Geistig stand Krenek dem Schönbergkreis ungleich näher als dem weich-sinnlichen Theaterlyrismus Schrekers, der immer mehr einem zeitfernen Legendenstil zustrebte“, notierte H.H. Stuckenschmidt 1951. Der junge Krenek schrieb entschlossen atonal, pflegte den „freien Kontrapunkt“ und gefiel sich in provozierender Härte, zuweilen „in grimassierendem Sarkasmus“. Mit einer „oft wahllos unbekümmerten Hand Akkorde türmend und Stimmen nebeinander her schiebend“, so Stuckenschmidt, habe er verblüfft. Desgleichen mit der Geschwindigkeit, mit der er ein Werk dem anderen folgen ließ.

Auf den Wechsel der Stimmungen und Moden in den Zwanziger und Dreißiger Jahren hat wohl keiner so rasch und mit derart seismographischer Zuverlässigkeit reagiert wie Krenek. Von Jahr zu Jahr wandelte sich seine Scheibweise; hatte er eben noch die Atonalität zu radikalisieren versucht, so überraschte er schon wenig später mit geglättetem Neoklassizismus; hier machte er Anleihen beim Schubertlied, dort beim Jazz. Durch den Leipziger Skandal um Jonny spielt auf (1927) wurde Krenek ein gemachter Mann: Er hatte, wie vor und neben ihm nur Kurt Weill, dem gesellschaftlichen Gärkessel der Zwanziger Jahre ein würziges Rezept für eine brisante musikalische Mixtur geliefert. Jonny wurde einer der großen Erfolge der Weimarer Jahre.

Nicht nur als Tonsetzer mit außerordentlich breitem Spektrum setzte sich Krenek in Szene. Er trat auch als Musikpublizist hervor und brillierte in der Frühzeit der Rundfunkvorträge. Mit den Erträgen aus den Jonny-Aufführungen ließ er sich in Wien nieder, konvertierte — unterm direkten Einfluß von Alban Berg und Anton Webern — entschieden zur Zwölfton-Technik. Mit der großen Oper Karl V. setzte Krenek ein Symbol für historisch und im Glauben begründeten Konservativismus. Doch die Wendung von der ironisch-sarkastischen Zeitoper zur Wiederbelebung der großen ernsten Historienoper nutzte dem Komponisten zunächst nichts — in Deutschland wurden 1933 die Aufführungen seiner Werke verboten, in Österreich sorgte vorauseilender Gehorsam dafür, daß sie keine allzu große Verbreitung fanden. 1938 emigrierte der „jüdisch versippte“ Krenek in die USA, wo er 1945 eingebürgert wurde. Er lehrte an verschiedenen Universitäten und siedelte sich 1947 in Kalifornien an.

In sieben Jahrzehnten hat der am 22.12.1991 gestorbene Krenek ein Lebenswerk von stattlichem Umfang und bemerkenswerter Breite geschaffen: Kammer- und Konzertmusik, Klavierstücke und Symphonien, Hurrican Variations und Echoes from Austria für Amerika, Marginal Sounds und repräsentative Variationen zu Ehren des Staatsgründers in der Wahlheimat, George Washington. Die Spannweite der Produktivität reicht von der Doppelfuge für Klavier des Achtzehnjährigen bis zur Feiertagskantate des fast Achtzigjährigen, von knappen Hölderlin-Vertonungen aus der Zeit des Versailler Friedensvertrags bis zur Deutschen Messe von 1968. Dazwischen eine neue Sommernachtstraum-Musik und - ebenfalls für das Leipziger Opernhaus geschrieben - das Leben des Orest, die Ballette Mammon und Der vertauschte Cupido (1925); im Exil die Lamentatio Jeremiae Prophetae und das Ballett Eight Column Lines. Wohin er kam, er wollte für Schlagzeilen sorgen und war häufig genug auch für Schlagzeilen gut.

Was von einem musikalischen Tausendsassa wie Krenek vom Kulturbetrieb festgehalten wird und was durch die Schüttelroste fällt, ist schwer zu prognostizieren. In den letzten Jahren taten sich die Wiederaufführungen der frischen Jugendwerke leichter als die großen ernsten Kunstanstrengungen Kreneks, denen häufig etwas zu sehr Kalkuliertes anzuhaften scheint. Es mag sein, daß die autobiographisch getönten Lieder der Spätlese von 1973 als Protokolle für bestimmte Aggregatzustände der Neuen Musik genommen werden und die frühe Kammermusik als Ausdruck des bloß partiell reflektierten, draufgängerischen „Neutönens“. In jedem Fall sollte sich Jonny einen Platz auf der Halbweltkugel des Musiktheaters behaupten. Diesen musikalischen Bastard sollte das Opernpublikum lieb gewinnen und schätzen wie Rigoletto oder Idomeneo. Frieder Reininghaus