Marianne, c'est moi

Über Jacques Rivettes Vierstundenfilm „Die schöne Querulantin“  ■ Von Thierry Chervel

Sie sitzt Modell, er ist Maler. Die Frau ist das Objekt, der Mann ist das Subjekt. Sie hält still, daß er sie zeichnet. Mehr noch wahrscheinlich: Daß sie still hält, macht ihn erst zum Maler. Denn was sollte er malen, wenn nicht sie? Er reduziert sie auf Linien, Formen, Farben. Er raubt ihr eine Dimension. Das tut weh, anfangs jedenfalls. Die Feder kratzt bei den ersten Skizzen, daß es kaum auszuhalten ist und ihr Schauer über die Blöße jagt. Eine gewölbte Linie — noch ist das Bild abstrakt. Ein Ypsilon daneben — schon ist es gegenständlich: Das Ypsilon ist ein Delta, das Delta der Venus, fertig ist die Frau. Sie ist bildschön: Hintern, Hüfte, Busen, Schultern — wenig Kopf insgesamt.

Zunächst ist ihre Nacktheit peinlich. Sie hält an sich, zieht ihren Blick in sich zurück, macht sich steinern, gleichgültig, aus Trotz zum Ding. Aber unterm schimmernden Marmor pocht es, der Atem hebt und senkt die Brust.

Der Maler behandelt sie mit prononcierter Sachlichkeit. Sein Blick ist der persönlich desinteressierte, exakt taxierende eines Landvermessers. Er bringt sie in Position, als wäre sie eine anthropometrische Puppe, Maßstab eins zu eins.

„Ich bin nicht dafür gemacht“, sagt Marianne (Emmanuelle Béart) nach der ersten Sitzung. Sie hätte sich ihr Objektsein nicht träumen lassen. Mit Frenhofer (Michel Piccoli) verkuppelt hat sie der Kunstspekulant und -sammler Porbus (Gilles Arbona), der sich vom lange ausgebrannten Meister ein letztes Meisterwerk verspricht. Unter dem Vorwand, Frenhofer mit Nicolas (David Bursztein) bekannt zu machen, führt Porbus sie bei ihm ein. „Nicolas ist Maler, Marianne liebt Nicolas“, sagt am Anfang des Films eine Frauenstimme aus dem Off. Was sie außer Nicolas' Geliebte noch ist, wüßte sie nicht zu sagen. Vielleicht wird sie darum zum Objekt. Daß sie „ein bißchen schreibt, nur für sich“, gibt sie nur widerwillig zu.

Liz empfängt die drei in Frenhofers schönem kleinen Chateau in der Provence. Liz (Jane Birkin) ist Frenhofers Frau. Sie backt gerade einen Kuchen. Sie ist die Zierde des Hauses. Die Beziehungen zwischen Liz und Frenhofer sind zärtlich, aber von melancholischer Zärtlichkeit, gegenseitiger Rücksicht, zur Routine gewordenem Eros, geteilter Trauer über nicht verwirklichtes Erträumtes. Später erfährt man, daß Liz „für sich“ tote Tiere ausstopft, die sie zu barocken Stilleben und naturkundlichen Vitrinen arrangiert.

Es gibt ein Abendessen. Die Konversation ist floskelhaft. Aber da geht etwas Seltsames vor. „Laß uns morgen fahren“, sagt Marianne zu Nicolas. Porbus knallt mir dem Kopf auf die Tischkante. Er ist Epileptiker. „Würden Sie es akzeptieren“, fragt Frenhofer Marianne, „wenn Nicolas seine Malerei mehr liebt als Sie?“ Peinliche Situation.

Am Nachmittag hatte Frenhofer seine Bilder gezeigt, Nicolas hatte fachmännische Kommentare gegeben, Neid hatte sich in die Bewunderung gemischt. Nach dem Abendessen ist es soweit: Porbus hat Frenhofer auf die Idee gebracht. Frenhofer hat wieder Lust zu malen. Nicolas schlägt ein: „Sie wird für sie posieren.“ Ein Mädchenhandel. Das gibt eine Szene. Aber Marianne wird es tun, gerade aus Wut über Nicolas, und aus Neugierde. Nicolas wird große Angst bekommen.

Frenhofer zwingt Marianne in die unmöglichsten, exaltiertesten, anstrengendsten Posen. Früher habe man die Modelle gefesselt, damit sie sich nicht bewegen, erläutert er. Aber es gehe ihm eigentlich gar nicht um die Posen. Er wolle sie, Marianne, nur zerlegen, auseinandersprengen, um zu sehen, was dann noch bleibe. „Keine Brüste, kein Bauch, keine Schenkel, kein Hintern mehr! Wirbelstürme. Galaxien. Ebbe und Flut.“ Alles, was rauscht also. „Stille? Hören Sie nicht den Wald? Es ist wie das Meer. Es ist das Rauschen der Anfänge. Wald und Meer zusammen. Das ist Malerei.“ Blut rauscht auch. Es sei zuwenig Blut in seinen Bildern, hatte Frenhofer bei seinem Rundgang bemängelt. Von Blut ist auch viel in Balzacs Novelle Ein unbekanntes Meisterwerk die Rede, auf der der Film in freier Anlehnung beruht. Frenhofer will „rausholen“ was hinter den Schläfen pocht, das Rauschen, Fließen, Pulsieren, das sich in Malerei so schwer festhalten läßt. Eine etwas vampireske Auffassung, aber wohl kosequent im Sinne der „Wahrheit in der Malerei“, die Frenhofer anstrebt.

Das Projekt ist alt: La belle noiseuseDie schöne Querulantin — soll das Bild heißen. Liz hatte ursprünglich dafür Modell gestanden, aber er hatte es mittendrin aufgegeben.

Im Laufe der Sitzungen löst sich die Spannung zwischen Marianne und Frenhofer bis hin zur Komplizenschaft. Das Projekt scheint nach den anfänglichen Kämpfen und Widerständen Fortschritte zu machen. Das Geräusch der Kohle auf Papier ist schon angenehmer als die kreischende Feder, noch weicher klingen Pinsel. Marianne zieht sich in den Zigarettenpausen gar nicht mehr den Morgenrock über. Ihre Nacktheit ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie erzählen von sich, trinken Wein, lachen. Die Harmonie ist trügerisch. Frenhofer ist nicht zufrieden. Als er schon wieder alles hinschmeißen will, ist es Marianne, die insistiert. Sie will sich die Posen jetzt selbst suchen. Sie gibt sich hin für Frenhofers Wahrheit in der Malerei, die sie am Ende so entsetzen wird. Nicolas hat Angst, Liz ist beunruhigt, Porbus spioniert.

Frenhofer weiß jetzt, was er tun muß: durchstreichen. Er holt die vor Jahren abgebrochene erste Fassung der „belle noiseuse“ mit Liz als Modell aus seinem Fundus und übermalt sie mit Marianne, Liz' Antlitz mit Mariannes Körper. Für Liz, die einst auf sich verzichtete für dieses Bild, ist das eine Katastrophe. Frenhofer ist immer noch nicht zufrieden. Er übermalt das Bild noch mal. Und auch wenn es ein bißchen stört, daß Frenhofers Gemälde nicht so genial sind, wie im Film immer behauptet wird — Bernard Dufour, Piccolis „Hand“ ist in Frankreich immerhin ziemlich bekannt, er hatte Ausstellungen auf der Documenta und im Centre Pompidou — dieses Bild verfehlt seinen Effekt nicht. „Eine kalte und trockene Sache“, sagt Marianne über sich, Liz malt ein schwarzes Kreuz auf die Rückseite, Frenhofer mauert es ein und wirft schnell ein drittes Bild hin, das er Porbus als sein Vermächtnis teuer verkauft.

Es folgt ein Abschiedsfest im Garten des Schlosses, ein Ballett konventioneller Gesten. Alles ist anders, als es vorher war, keiner sagt es. Die Frauenstimme aus dem Off, die ganz zu Anfang zu hören war, kommt wieder und stellt sich vor. Sie sagt: „Marianne, c'est moi.“ Sie sagt es anders, als Loulou in der bekannten Parfüm-Reklame „Loulou? C'est moi“ sagt, nicht als Objekt, sondern als Subjekt, die Erzählerin ihrer Geschichte.

Die schöne Querulantin , von Jacques Rivette, Drehbuch: Pascal Bonitzer, Christine Laurent, Kamera: William Lubtchansky, mit Emmanuelle Béart, Jane Birkin, Michel Piccoli, David Bursztein u.a., Frankreich 1991, 240 Min. Der Film läuft im Original mit Untertiteln. In Kürze startet unter dem Titel Divertimento eine von Rivette selbst auf zwei Stunden gekürzte Fassung des Films in deutscher Synchronisation.